Schattenbluete - Band 2 - Die Waechter
dass sie zu neuen Mustern zusammenfallen, die weniger eckig und scharfkantig sind.
Einen Moment noch stehe ich an der Tür. Neben mir eine Gruppe junger Männer. Ein ekliger Geruch nach Bier hängt in der Luft. Ich schnuppere. Der Gestank kommt eindeutig von ihnen. Nur der große Blonde sieht so aus, als wenn er nicht zu den anderen gehört.
Das Warnsignal ertönt. Dann fahren hinter mir die Zugtüren zu. Schneiden die Außenwelt ab wie Trennmesser, und der Zug gleitet los. Wir sind in der Ringbahn, sagt die Leuchtschrift im Zug. Weiter hinten sitzt ein Pärchen, mit sich beschäftigt. In der Mitte döst eine Frau mit einer Tasche zwischen den Knien. Ich will mir gerade einen Platz suchen, da bekomme ich einen kräftigen Stoß von hinten, der mich in den Gang stolpern lässt. Kann mich gerade noch an der Haltestange festhalten. Drehe mich um. Der große Blonde ist gegen mich geprallt. Offenbar hat er gerade einen Schlag ins Gesicht bekommen. Entsetzt reißt er die Augen auf und hält sich die Hand unter die blutende Nase. «Hör mir doch mal zu!», sagt er zu dem Dunkelhaarigen in der schwarzen Jacke und geht auf ihn zu. Leise spricht er und ist kaum zu verstehen wegen der geschwollenen Nase.
«Halt die Fresse, oder ich verpass dir gleich noch eine!» Der Typ in der schwarzen Jacke schubst den Blonden mit beiden Händen rückwärts. Wieder taumelt er. Diesmal weiche ich rechtzeitig aus und lasse mich schnell auf einen leeren Sitz gleiten. Der Blonde mit der blutenden Nase knallt mit dem Rücken gegen die Haltestange.
«Nein, warte!» Er wehrt sich nicht. Kein Wunder, die anderen sind zu dritt. Doch warum läuft er nicht weg? Der Zug ist lang. Aber er bleibt einfach nur stehen und hält abwehrend die Hände hoch. Seine Rechte ist voller Blut, genau wie sein Gesicht.
Ich schmecke die rohe Wut und Zerstörungslust auf der Zunge, die durch den Zug fluten. Eingesperrt in dieser Blechröhre von Waggon, stellen sich mir die Nackenhaare auf. Wut und Gewalt. Und ich habe Angst. Nicht mal so sehr um mich, denn mich bemerken sie gar nicht. Der Blonde blutet. Ratlos steht er da, scheint nicht zu wissen, ob er fliehen oder weiterreden soll. Vielleicht ist er auch noch von dem Schlag benommen. Ich kann nicht einfach abwarten und zuschauen, wie sie ihn wieder schlagen. Und wieder.
So hat Norrocks Rudel den Typ im Wald wohl getötet. Immer und immer wieder zugebissen, bis der Junge still war und sich nicht mehr gerührt hat. Vielleicht hat er geschrien, vor Schmerzen und Angst. Doch da war niemand, den das gekümmert hat. Niemand, der eingeschritten ist.
Genauso wie jetzt. Jetzt tut auch niemand etwas dagegen. Der Mann auf dem Platz neben mir starrt vor sich hin. Die Frau mit der Tasche döst und tut so, als würde sie nichts mitbekommen. Das Pärchen hinter mir ist mit sich selbst beschäftigt.
Und der Blonde steht da immer noch: Eine Hand an der Haltestange, eine vor dem blutenden Gesicht, scheint er nach Worten zu suchen. Nach Worten, die den Schläger beruhigen sollen und doch noch mehr herausfordern werden. Ich muss helfen, muss es beenden. Außer mir tut es niemand.
Ich stehe auf von meinem Sitz und gehe zu ihm. Langsam, fast zufällig. Ein Lächeln klebe ich mir als Schutzschild ins Gesicht und tue, als würde es die Schläger nicht geben. Als hätten sie nichts mit mir zu tun. Es muss höllisch wehtun, wenn eine Faust einen mit voller Wucht trifft. «Dahinten», sage ich zu dem Blonden. Berühre ihn am Arm, als hätten wir uns schon längst begrüßt und halte ihm ein Taschentuch hin. «Komm, dahinten sind Thilo und Acelya!» Ich zeige auf das knutschende Pärchen am anderen Ende des Wagens. Ich habe sie noch nie in meinem Leben gesehen und keine Ahnung, wie sie wirklich heißen, aber das ist jetzt egal. «Die anderen steigen bestimmt am Gesundbrunnen zu!» Ich nehme den blutenden Mann, der zögernd seinen Griff von der Haltestange löst, am Oberarm, schiebe ihn von den Schlägern weg den Gang entlang. Zum Glück wehrt er sich nicht. Ich drehe mich nicht um. Bleibt stehen!, denke ich und hoffe, dass sie es tun. Dass ihre Wut verraucht, jetzt, wo ihr Opfer nicht mehr vor ihnen steht. Der Blonde geht wortlos weiter. Ob er zu benommen ist, zu bemerken, dass ich ihm vollkommen fremd bin? Ich meine, Stiefelschritte hinter mir zu hören, aber ich gehe weiter und blicke nicht zurück. «Ich dachte schon, ich erwische die Bahn nicht mehr», plappere ich stattdessen laut. «Dann hätten wir uns bestimmt verpasst!»
«Ja,
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