Schattenbluete - Band 2 - Die Waechter
die, die kommen, zu schwach sind. Aber nicht damit, dass sie zwar stark sind, aber nicht entschlossen genug, ihre Kräfte auch einzusetzen. Sie sind zu behütet. Sie sind aufgewachsen in dem Glauben, dass man alle Probleme dieser Welt mit Güte lösen kann. Sie haben nie erfahren, wie es manchmal da draußen zugeht. Wenn Menschen sich grundlos prügeln, andere quälen, Streit suchen aus purer Langeweile.
Ich denke an jeden Einzelnen in unserem geheimen Himmelsnest (dieser Name!). Jung sind sie und voller Hoffnung, gütig, geduldig, klug und geschickt, den Menschen wirklich zugetan. Doch etwas fehlt. Der Funke in ihnen. Da ist keine Leidenschaft, sie haben sich dieser Aufgabe nicht mit Leib und Seele verschrieben, könnten genauso gut etwas anderes für den Orden tun. Ich weiß nicht, ob es reicht, dass sie sich nur bemühen. Ich wünschte, sie würden es mit all ihrem inneren Feuer wollen, so wie ich.
Das Verrückte ist, ich habe ein Mädchen getroffen, in deren Augen ich die gleiche unerbittliche Entschlossenheit gelesen habe, mit der ich meine Aufgabe angehe. Ich wünschte, ich könnte sie in meinen Orden holen, damit sie an meiner Seite kämpft. Doch stattdessen darf ich ihr nichts von alldem erzählen, noch nicht einmal, dass es uns gibt. Denn sie ist ein Mensch. Ein normaler Mensch. Welch eine Verschwendung!
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13. Luisa
Leer geweint und müde mache ich mich auf den Weg zur Schule. Es hat wieder geschneit. Auf all den Schmutz, den Hundekot am Straßenrand und die aufgeweichten, zerfledderten Papiere auf dem Gehweg hat sich eine sauberweiße Schicht gelegt. Wie ein gestärktes Tischtuch, das einen schäbigen, alten Tisch schamhaft verbirgt. Ich wünschte mir, alles, was ich letzte Nacht über Thursen erfahren habe, könnte ebenso unter einer unschuldig weißen Decke verschwinden. Doch es bleibt. Ich kann mich ablenken, kann in der Schule zum ersten Mal mit aller Kraft dem Matheunterricht folgen, dass es den Lehrer in maßloses Staunen versetzt: Es bleibt dabei. Der, den ich liebe, liebt mich, und er hat getötet. Das Wunderbarste und das Grausamste auf einmal, untrennbar in einer Person vereint.
Während der sechsten Stunde melden sich Kopfschmerzen. Als ich zu Sport muss, haben sich die Schmerzen bereits tief in meinen Kopf geschraubt. Es ist, als würden all die schweren Gedanken an Thursen, die ich nicht denken möchte, von innen gegen meinen Schädel hämmern. Ich wünschte, ich könnte nach Hause. Ich wünschte, ich hätte einmal Ruhe vor all dem, was auf mich einstürmt. Stattdessen stehe ich mit meinen nagelneuen Sportklamotten in der Halle und bekomme nur noch die Hälfte mit. Bälle fliegen von allen Seiten auf mich zu wie Kanonenkugeln. Das Netz ist ein Fluss, ein Grenzfluss, hinter dem schemenhaft Feinde lauern. Die Pfeife meiner Sportlehrerin zerschneidet mein Gehirn in zwei Hälften.
Ich überstehe die Stunde irgendwie und kotze mir auf der Toilette neben den Umkleideräumen die Seele aus dem Leib. Eines der Mädchen aus meinem Team kommt mir nach. Wartet, bis ich auf die Füße und aus der Toilettenkabine komme.
«Alles klar?», fragt sie.
«Nein, aber besser. Kopfschmerzen», nuschele ich und nehme dankbar das Papiertaschentuch, das sie mir gibt. Sie verschwindet und kommt mit einer Packung Paracetamol zurück. Ich war selten so dankbar.
Zu Hause lege ich mich erst mal hin. Die bleierne Müdigkeit und die nur langsam abklingenden Kopfschmerzen machen mich fertig. Diesmal schlafe ich traumlos. Und als ich aufwache, sind die Schmerzen und die Müdigkeit weg, alles, was ich habe, ist Hunger.
Ich suche im Kühlschrank, den Schränken und finde nicht viel. Milch, zwei verschrumpelte Äpfel, Marmelade und einen Joghurt. Ein Rest Müsli. Ein paar Eier. Meine Mutter kauft kaum noch ein, seitdem niemand mehr da ist, den sie bekochen kann. Nur noch ich, und ich esse nicht viel.
Im Wandschrank ist noch Mehl. Ich könnte mir Pfannkuchen machen. Die hat meine Mutter früher für meinen Bruder und mich oft gebacken, wenn wir an Novembertagen im Garten gespielt haben und durchgefroren und schmutzig wieder hereinkamen. Das ganze Haus duftete nach Zimt. Wir haben uns die Hände gewaschen und dann an den heißen, süßen Pfannkuchen aufgewärmt. Ich sehe noch Fabis lachendes, von der Kälte gerötetes Gesicht vor mir. Und ich sah wahrscheinlich genauso aus. Dann, als meine Mutter sich so viel um meinen immer kränker werdenden Bruder kümmern musste, hat sie mir als erstes
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