Schattenbluete - Band 2 - Die Waechter
ich allein bin, fallen meine Gedanken wieder über mich her. Blutige Hände habe ich, wahrscheinlich bin ich an seine Jacke gekommen. Mein letztes Papiertuch verbrauche ich bei dem Versuch, meine Hände zu reinigen.
Zu Hause schaffe ich es ins Bad, ohne meine Mutter zu wecken. Nachdem ich mich notdürftig und leise gesäubert habe, falle ich todmüde ins Bett.
In meinem Kopf flackern die Gedanken auf. Ich habe einen Jungen vor einer Schlägerbande gerettet. Habe mich, ohne groß zu überlegen, zwischen ihn und seine Angreifer gestellt. Das hätte auch schiefgehen können. Sie hätten auch auf mich losgehen können. Doch trotzdem war das gestern der Moment, in dem ich mich zum ersten Mal seit Silvester nicht so verdammt hilflos gefühlt habe. Ich konnte etwas tun, jemandem helfen und nicht nur danebenstehen und abwarten, was passiert.
Thursen und ich hätten uns gemeinsam gegen die Werwölfe stellen sollen. Wir hätten wenigstens versuchen können, sie aufzuhalten.
Statt von Thursen träume ich in dieser Nacht von meinem Bruder. Wir sind in unserem alten Haus in Hamburg, sitzen auf dem Boden und spielen mit unserer Modelleisenbahn. Zischend und tutend dreht sie ihre Runden. Meine Eltern lachen und bringen uns Plätzchen. Es muss Adventszeit sein.
Plötzlich bin ich zwischen Traum und Wachen gefangen. Ich weiß, dass das alles nicht mehr da ist, die Eisenbahn, das Geräusch der Räder auf den Schienen und der Duft des Dampföls, das erhitzt in Schwaden aus dem kleinen Schornstein quillt. Der Teppichboden, der ein Muster in meine Handballen drückt. Alles nur eine Erinnerung. Mein Bruder ist begraben, und in unserem Haus leben Fremde. Doch da ist diese entsetzliche Sehnsucht, die mich in die Vergangenheit zieht. Ich weiß in diesem Traum genau, dass ich nur sterben muss, und ich bin wieder da. Kann wieder in unserem Wohnzimmer sitzen und die Eisenbahn fahren lassen. Ich rufe, rufe nach Fabi und habe gleichzeitig Angst, dass er mich hört und mitnimmt ins Totenreich.
Und niemand, niemand ist da, der mich hört und aus meinem Traum weckt.
Schweißgebadet und atemlos erwache ich, ringe nach Luft, und im nächsten Moment beginnen die Tränen über mein Gesicht zu rinnen, als hätte jemand ein Ventil geöffnet. Ich sitze zusammengesunken auf meinem Bett und spüre den Tränen nach. Weine, weine, weine.
Auf einmal geht in meinem Zimmer das Licht an und meine Mutter steht in der Tür. Zerzaust und nachtblass kommt sie zögernd näher.
«Was ist denn?», fragt sie und setzt sich zu mir aufs Bett.
«Nichts.» Ich dachte, ich sterbe. Ich dachte, Fabi kommt und nimmt mich mit. Und immer noch laufen die Tränen.
«Ist wirklich alles in Ordnung?» Ich spüre ihre Hand, die vorsichtig über meinen Rücken tastet.
«Ja, alles okay.» Ich versuche, die Tränen zu trocknen, die einfach weiter aus meinen Augen rinnen. «Es ist wirklich nichts, ich habe nur schlecht geträumt.» Wie soll ich ihr auch erklären, dass meine größte Angst in diesem Traum nicht war, dass jemand mich ins Totenreich zieht, sondern dass ich ganz von selbst gehe? Dass es nichts mehr gibt, was mich in der Welt der Lebenden hält?
«Ich geh duschen», sage ich und wühle mich aus dem Bett.
«Es ist doch noch viel zu früh!»
«Ich kann sowieso nicht mehr schlafen.» Ich will auch nicht mehr schlafen, wenn solche Träume zurückkommen könnten. Meine immer müde Mutter tappt zurück in ihr Bett. Ich schließe mich im Badezimmer ein und stelle mich unter die Dusche. Das rinnende Wasser macht mich langsam ruhiger. Wäscht Angst und Tränen von mir.
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12. Elias
Wir haben unser neues Quartier bezogen, dort, wo es niemand vermuten würde. Unbemerkt von den Anwohnern sind schöne helle Zimmer entstanden, Gemeinschaftsräume, Trainingsmöglichkeiten. Hier soll sie entstehen, die neue Hoffnung der Shinanim. Doch für mich fühlt es sich an wie eine Gruppe Schüler auf Klassenfahrt. Gestern haben sie stundenlang darüber diskutiert, ob Adrian das größte Zimmer behalten darf oder ob er mit Selina tauschen muss. Dann wollten sie unserer Wohnung hier einen Namen geben. Als ob das wichtig wäre! Unsere Räume sind ziemlich weit oben, so wie wir Shinanim es lieben. Nun wohnen wir also im «Himmelsnest». Sich darauf zu einigen ist unser einziger Erfolg bisher. Wir sind noch genauso weit entfernt davon, eine schlagkräftige Truppe zu sein wie vorher. Mit allem habe ich gerechnet. Damit, dass niemand sich mir anschließen will. Damit, dass
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