Schattenbluete - Band 2 - Die Waechter
will mich stützen, doch ich wehre sie ab. Ich brauche keine Hilfe. Muss mich nur davon erholen, dass mein Körper sich in einem unbedachten Moment von meinem Willen gelöst und selbst die Herrschaft übernommen hat.
Norrock und Thursen stecken die Köpfe zusammen. Dann kommt Thursen zu mir. «Wir müssen Krestor jetzt wegbringen!», sagt er. «Kannst du hier allein mit Rieke bleiben?»
Ich nicke. Setze mich auf einen Baumstumpf am Feuer. Rieke gibt mir ein Glas Wasser. Gemeinsam beobachten wir, wie Norrock Irudit, Roff und Mauriks anweist, Krestors Körper in eine der Planen zu wickeln. Es geht erstaunlich schnell und hat so gar nichts Magisches mehr. Kaum ist Krestor ein grün eingeschlagenes Paket, setzt sich der Leichenzug in Bewegung. Thursen geht voran, Lurnak und Rawuhn, die beiden Wölfe, an seiner Seite. Mauriks, Irudit, Roff und Janok tragen den Toten. Norrock, Haddrice und Zrrie folgen mit frischen Fackeln, die Zrrie am Feuer entzündet hat. Den Schluss bilden wieder zwei Wölfe, Fath und Jerro. Der ungewöhnliche Trauerzug verschwindet zwischen den Bäumen. Ob sie das immer schon so gemacht haben, wenn einer von ihnen gestorben ist? In meiner Vorstellung sehe ich all die namenlosen Wölfe vorbeiziehen, die ich nicht mehr kennenlernen konnte, weil ein Wolfsleben so verdammt kurz ist.
«Das dauert bestimmt, bis die wiederkommen», unterbricht Rieke meine Gedanken. «Ich hole mir was zu lesen aus meinem Zelt. Willst du auch ein Buch?»
«Du hast doch nicht wirklich hier im Wald Bücher?»
Sie zuckt die Schultern. «Ich lese gerne. Ich nehme eigentlich überallhin Bücher mit.»
Mitten unter den jagenden, kämpfenden Werwölfen lebt eine Leseratte! «Du passt überhaupt nicht hierher, weißt du das? Was tust du nur im Wolfslager?»
«Norrock hat mich eingeladen, bei den Wölfen im Wald zu leben, und jetzt bin ich eben hier.»
Norrock scheint bei seiner Suche nicht nur auf Haddrice gestoßen zu sein. «Ich weiß, nach wem Norrock gesucht hat. Dann bist du auch ein Opfer von diesen Schlägern?»
«Ich lerne eigentlich Buchhändlerin, weißt du», erzählt sie mir. «Ein toller Beruf.»
«Und jetzt bist du hier, wo es keine Heizung, kein fließendes Wasser gibt.»
«Ich weiß. Aber nach dem Überfall, du weißt schon, konnte ich irgendwann nicht mehr zur Arbeit gehen. Zuerst wusste ich nicht, warum manche Kunden in den Laden kamen, nichts kaufen wollten, sondern mich nur anstarrten. Doch dann habe ich erfahren, dass es dieses Video von mir im Internet gibt. Und täglich bekam es mehr Klicks. Ich habe es löschen lassen, aber es tauchte als Kopie auf anderen Seiten wieder auf. Danach konnte ich nicht mehr. Ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten, im Laden zu stehen und nicht zu wissen, wer als Nächstes zur Tür hereinkommt. Da stehen, die Kunden anlächeln und dabei denken, jeder von ihnen könnte das Video gesehen haben. Wissen, wie ich verheult, misshandelt und fast nackt aussehe.»
«Tut mir leid.» Was für ein blöder Satz. Ihr Leben stürzt in sich zusammen, und mir tut es leid.
«Dann hat mich irgendwann dieser abgerissene Lederjackentyp angequatscht. Ich dachte erst, Norrock wäre auch einer von den Videoguckern. Aber er wollte was anderes. Informationen. Luisa, ich weiß, es hört sich komisch an, aber ich habe mich so gefreut, als er mir angeboten hat, herzukommen. Hier im Wolfslager habe ich mein Zelt und meinen Schlafsack. Jeder weiß, was mir passiert ist, aber sie lassen mich in Ruhe, und ich kann lesen. Keiner von Nicks Bande kommt vorbei an einem Rudel Werwölfe. Hier fühle ich mich sicher. Bestimmt hältst du mich jetzt für total bekloppt.»
«Ich?», frage ich. «Bestimmt nicht. Mein Bruder ist letztes Jahr gestorben, und, glaub mir, ich habe noch ganz andere Sachen gemacht, als am Lagerfeuer zu sitzen und Bücher zu lesen.»
«Tut mir auch leid wegen deinem Bruder.» Sie legt mir ihre Hand auf den Arm. Ihre rosige Menschenhand.
«Sag mal, haben die Wölfe gar nicht versucht, dich zu verwandeln? Gerade Haddrice hat doch panische Angst, dass ein Mensch ihr Lager verraten könnte.»
«Ich verrate die Wölfe doch nicht. Die sind alle so nett zu mir.»
Rieke redet, als sei sie in einem Pfadfinderlager. «Aber du weißt schon, dass die Wölfe nicht nur lieb und friedlich sind?», frage ich. «Sie jagen Menschen.»
Rieke sieht mich auf seltsame Weise an. «Ich weiß. Es ist auch meine Rache, Luisa.»
Rieke ist also nicht ganz so naiv, wie ich dachte. «Aber sie haben einen
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