Schattenblüte. Die Erwählten
Mitte ist undurchdringlich wie Marmorwolken, an den Rändern franst er aus ins Nichts. Aus dem Nebel dringt Heulen. Glowen hört ihren Bruder und läuft zu ihm. Die anderen folgen. Zrrie rappelt sich auf, humpelt davon und wird im Dunst unsichtbar.
Auf einmal wird es dunkel, Elias läuft los, viel zu schnell, um ihn aufzuhalten. «Zu Vittorio», ruft er uns zu. Und jetzt? Thursen schießt nicht.
Und ich kann nichts tun! Der Nebel ist wie ein Vorhang, hinter dem der Tod mit meinen Freunden tanzt, unsichtbar für mich. Hätte ich Pfoten, könnte ich ihnen nach, doch meine Hände öffnen und schließen sich, kneten nur Luft, und es ändert nichts. Ich kann nichts tun.
Thursen umarmt mich und hat immer noch die unselige Pistole. «Warte hier bei Rieke und Edgar. Komm nicht nach!», flüstert er. «Was auch geschieht!»
Ich nicke. Wenn er mich hält, kann ich atmen. Ich kann tatsächlich nicht zum Tor, nicht mehr. Ich bin wieder Mensch. Anders als Thursen, der – das begreife ich endlich – immer ein Teil Wolf bleiben wird. Er ist der Leitwolf, das ist sein Rudel. Er lässt mich los und läuft. «Ich liebe dich!», rufe ich ihm nach. Einen Herzschlag später hat auch ihn der Nebel verschluckt.
Rieke steht an den Stamm einer Eiche gelehnt, ihre alten Bücher an die Brust gepresst. Edgar starrt in den Nebel, als könnte er mit seinen Feueraugen hindurchsehen.
Doch es ändert nichts. Wir können nicht hin!
Da drin höre ich sie wieder, die Stimmen der Werwölfe. Fühle die Erde unter mir zittern. Fühle die Erde brausen und beben, als hätte sie einen eigenen Herzschlag. Als hätten die Wölfe mit ihrem Heulen eine Wunde geöffnet, die bis hinab ins Herz der Erde reicht. Pulsierend sickert die dunkle Macht heraus, gibt den Werwölfen Kraft und schwächt ihre Feinde. Rieke hält Edgar und mich an den Händen. Ich greife mit der freien Hand nach Edgars und drücke sie so heftig, dass es schmerzt.
«Shinanim!», brüllt jemand.
Der Angriff, vor dem sie das Tor beschützen sollten? Was ist mit Elias? Ist er mit dabei? Wütendes Wolfsknurren. Eine Frau schreit, hoch und schrill.
Dann wird es still. Erlauben sie jetzt dem Tor, sich wieder zu schließen? Der Nebel wird dünner, verfliegt, als würde etwas ihn aufsaugen, verdunsten lassen. Gleich wird er nur noch ein Schleier sein.
Auf einmal erglüht der milchige Dunst, das Herz des Nebels leuchtet auf, als würde irgendwo da drin ein Licht aufflammen.
«Tor zu, Norrock!», höre ich Thursen rufen. «Schnell! Lass ihn nicht rein!»
Das Licht erlischt. Bleigraues Nichts. Was ist da los?
«Zu spät! Gib die Pistole her!», antwortet Norrock. «Ich gehe rein und hole ihn da raus!»
«Nein!», ruft Thursen.
«Nein! Du gehst nicht durch das Tor – Alexander Bergmann!», brüllt Rieke auf einmal neben mir.
Rieke? «Was hast du gemacht?»
«Hätte ich zulassen sollen, dass er zu den Toten geht?»
«Das war Norrocks Name? Du weißt davon? Dass der Namen den Werwolf in einen Menschen zurückverwandelt?» Hat sie nicht immer nur ihre Romane gelesen und wollte von den Werwölfen nichts wissen?
«Das hat Haddrice mir gegeben.» Sie blättert in ihrem alten Buch, sucht eine bestimmte Stelle. «Hier stehen sie. Alle Namen, alle Schicksale.»
Und Norrocks Namen hat sie sich gemerkt.
Norrock ist zurückverwandelt. Der Leitwolf ist ein Mensch. Zischend verfliegt der Nebel, als würde alles auf einmal heiß. Tausende Krähen fliegen auf und tanzen in den Nebeln wie aufgewirbelte Ascheflocken über einem Feuer. Alles vibriert und schwankt. Die Sicht wird klarer, der Blick reicht weiter. Weiter bis zu einem düsteren Fleck im Mondlicht, der langsam Form annimmt.
Das Tor!
Thursen rennt auf mich zu, an mir vorbei, packt mich und dreht mich zu sich. Drückt mein Gesicht gegen seine Schulter. «Sieh nicht hin! Kein Mensch darf das Tor sehen. Du weißt, dass die sterben müssen, die das Tor sehen.» Und dann brüllt er: «Edgar, pass auf, dass Rieke sich umdreht!»
Ich blicke zu Thursen auf und sehe, dass sogar er die Augen geschlossen hat.
«Was ist passiert?», frage ich flüsternd an seiner Schulter.
«Vittorio und eine Shinan kamen auf uns zu. Die Frau konnten wir stoppen. Vittorio wollte gar nicht kämpfen. Er hat geglüht wie eine Fackel, der ganze Nebel hat geleuchtet. Und dann ist er durch das Tor in die Totenwelt gelaufen. Er ist der Erzshinan. Seine Kraft zerstört das Tor von innen.»
Nicht nur der Nebel löst sich auf. Das Tor stürzt zusammen und zerfällt! Wir
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