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Schattenblüte. Die Erwählten

Schattenblüte. Die Erwählten

Titel: Schattenblüte. Die Erwählten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Melling
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hören es, spüren es. Die Wunde der Erde schließt sich mit Macht. So muss sich ein Erdbeben anfühlen. So muss es sich anfühlen, wenn man mit geschlossenen Augen neben einem Haus steht, das nach geglückter Sprengung in sich zusammenstürzt.
    Norrock schreit. Menschenschreie, weil er keinen Wolfsschrei mehr ausstoßen kann. Seine Rückverwandlung direkt neben dem Tor muss entsetzlich sein, so plötzlich und radikal ist er von der Lebenskraft abgeschnitten. Vorsichtig blinzele ich. Die Wölfe starren mit gesträubtem Fell und gebleckten Zähnen auf den Untergang des letzten Tores zur Schattenwelt.
    Gleich wird die letzte Verbindung zum Totenreich abbrechen. Die, die den Wölfen ihre Kraft gibt. «Schnell, lies die Namen», rufe ich Rieke zu.
    Rieke, den Rücken zum Tor und dem flackernden Licht, hat die Seite aufgeschlagen. «Christina Krellkamp», ruft sie. «Justus Krellkamp.»
    Glowen und Polmeriak.
    Gerettet.
    «Du auch!» Rieke gibt mir den Zettel, den sie lose im Buch liegen hat, damit wir schneller sind. Es ist Sjölls Zettel, ich erkenne die Handschrift. Das Licht des sterbenden Tores erhellt die Seiten.
Lars Lund
, Thursens Name, steht dort. Und Karrs Name,
Moritz Hassmann
. Laut lese ich die restlichen Namen vor. Vermutlich sind darunter auch die von Krestor und Lurnak, von Jerro und Fath. Ich weiß nicht, welcher Name zu wem gehört. Rawuhn. Bringe ich Rawuhn zurück? Einer der Namen muss seiner sein!
    Das Tor vibriert. Hitze strömt raus. Hitze wie von zig Lagerfeuern. Mein Rücken brennt. Ich denke an den Eid und drehe mich nicht um.
    Rawuhn taucht an meiner Seite auf und ist Mensch. Endlich.
    Noch einmal Helligkeit, heller als alles vorher. Dann stürzt das Tor ein. Trümmer, Staubwolken, Höllenfeuer.
    Dunkelheit.
    Stille.
    «Ich glaube, du kannst jetzt hinsehen», sagt Thursen.
    Ganz langsam drehe ich mich um.
    Über uns fliegen die Krähen davon, wie ein Schwarm Schwalben auf dem Weg nach Süden.
    «Sie haben die Träume von den Toten gejagt, die aus dem Tor zu uns gekommen sind», sagt Thursen und sieht den Vögeln nach.
    «Und jetzt?»
    Er streicht mir eine Strähne Haar zurück. «Keine neuen Träume mehr, und die alten Träume werden verblassen.»
    Dann traue ich mich da hinzusehen, wo ich da Tor vermutet habe. Und finde die Stelle nicht mehr.
    Vorbei, als hätte es nie existiert. Da ist nichts. Nur Wald. Der Schnee ist ein wenig geschmolzen. Nicht einmal eine verkohlte Stelle zeigt, wo das Tor gestanden hat. Und in der Nähe die zerbissene Leiche der toten Shinan.
    Alle sind wieder Mensch. Norrock kotzt und windet sich. Mauriks schreit und packt sich selbst in die Haare. Reißt Büschel aus und starrt sie an wie fremde Wesen. Glowen blickt stumm auf ein Stück Waldboden. Ich folge ihrem Blick.
    Zrrie ist immer noch Wolf! Liegt da, japst, als könnte sie unsere Luft nicht atmen, und ist Wolf! Wie kann das sein? Wir haben doch alle Namen gelesen!
    Edgar rennt zu ihr. Fällt auf die Knie und reißt sie an sich. Zrries Kopf fällt nach hinten, das Maul hilflos geöffnet. Was sollen wir tun? Was können wir tun? Es ist das Tor zur Totenwelt, das sie leben lässt. Jetzt, wo das Tor zerstört ist, zerrinnt ihre Lebenskraft.
    «Wieso sagt ihr denn nicht endlich ihren Namen?», schreit Edgar.
    «Wir haben alle Namen gelesen. Ihrer muss gefehlt haben», sagt Rieke.
    «Verdammt!», flucht Thursen. «Sie kam zu uns, nachdem Sjöll ihre Liste mit ins Grab genommen hat, und war schon Wölfin, als Haddrice mit der zweiten Liste im Buch anfing.»
    Edgar hält Zrries Kopf. Hilflos. «Weißt du denn ihren Namen nicht, Luisa?»
    «Gabriella. Sie hat mir Gabriella gesagt.» Nichts passiert. Natürlich nicht. «Ich wusste gleich, dass das nicht ihr Name ist, aber den richtigen wollte sie uns nicht verraten.»
    «Tut doch was, seht ihr nicht, dass sie stirbt?»
    Ja, sie stirbt. Sie blutet nicht mehr, hat keine neue Verletzung. Trotzdem ist es, als würde das Leben mit jedem Herzschlag aus ihr heraustropfen. Mir laufen die Tränen über das Gesicht. Thursen hält mich, und ich presse mich an ihn. Auf einmal bin ich wieder sechzehn Jahre alt. Es ist wie damals, als mein Bruder starb und ich nichts tun konnte. Ich klammere mich an Thursen, doch er macht sich los. «Ich hole Hilfe!», sagt er und verschwindet im Dunkel. Warum läuft er weg? Wer sollte uns schon helfen können? Es ist doch sowieso gleich vorbei! Kann er nicht dableiben und dem Tod ein letztes Mal ins Auge sehen?
    Allein stehe ich da. So kalt.
    Ein

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