Schattenblume
er Jeffrey freund‐
lich an, als wäre zwischen ihnen nie etwas vorgefallen.
«Possum», begann Jeffrey. Er kam sich vor wie ein
Schwein, als er die violette Beule an Possums Kinn sah.
Doch wie immer war Possum die Ruhe selbst. «Keine
große Sache, Slick», sagte er und klopfte Jeffrey auf die Schulter. «Du kriegst noch dein Wechselgeld von gestern.
Erinner mich dran.»
«Nein, vergiss es, hörst du?»
Possum ging weiter. «Hast du mit Robert gesprochen?»
«Ich wollte gerade zu ihm.»
«Heute Morgen haben sie die Kaution festgesetzt»,
sagte Possum und zog einen dicken Umschlag aus der
Tasche.
Als Jeffrey das Bündel Geldscheine sah, zog er Possum
ein paar Meter weiter in den Gang. Zwar konnte Reggie
Ray immer noch mithören, aber Jeffrey war es wohler,
wenn zwischen ihnen ein gewisser Abstand war.
Er sagte: «Possum, wo hast du so viel Geld her?»
«Ich hab eine Hypothek auf den Laden aufgenommen»,
erklärte er. «Nell hätte fast einen Herzinfarkt bekommen,
aber wir können Robert doch nicht in einer Zelle sitzen
lassen.»
Wieder schämte sich Jeffrey. Er war überhaupt nicht auf
die Idee gekommen, dass Robert auf Kaution freikommen
könnte, geschweige denn auf die Idee, selbst Geld aufzu‐
treiben. «Jessies Familie hat Geld wie Heu», sagte er. «Die sollten das übernehmen.»
«Die weigern sich», erklärte Possum, und ausnahms‐
weise machte er ein grimmiges Gesicht. «Ich sag dir eins, Slick, mir tut es im Herzen weh, wie sie ihn behandelt.
Egal, was hier los ist, er ist immer noch ihr Mann.»
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«Hast du mit ihr geredet?»
«Ich komme gerade von ihr.» Er senkte die Stimme. «Sie
war sternhagelvoll, und es ist noch nicht mal Mittag.»
«Was hat sie gesagt?»
«Sie meint, was sie angeht, soll er in der Hölle schmo‐
ren. Ist das zu glauben? Sie sind eine Ewigkeit zusammen, und dann schreibt sie ihn einfach ab.»
«Sie hatte was mit einem anderen, vergiss das nicht.»
«Und seit wann?», fragte Possum, und Jeffrey musste
zugeben, dass das eine gute Frage war. «Ich meine, das
ergibt doch überhaupt keinen Sinn. Egal, wie zickig sie
manchmal ist, wie sollte sie hier mitten in der Stadt mit einem Typen rummachen können, ohne dass es jemand
mitkriegt und Robert was steckt?»
«Vielleicht hat ja jemand Robert was gesteckt», sagte
Jeffrey und blickte zu Reggie. Der Hilfssheriff starrte ihn hasserfüllt an.
Auch Possum schien zu merken, was los war. Er stellte
sich zwischen die beiden Männer und fragte Reggie: «Wo
kann ich die Kaution bezahlen?»
«Hinten», sagte Reggie. «Ich bring dich hin.»
Reggie rückte seinen Pistolengurt zurecht, als er auf Jeffrey zukam, die rechte Hand auf dem Kolben. Er rempelte
Jeffrey mit der Schulter an, doch diesmal reagierte Jeffrey nicht. Er hatte in letzter Zeit schon genug Streit angefangen. Kaum waren die beiden Männer fort, klopfte er an
Hoss' Tür und ging gleichzeitig hinein.
«Hallo», sagte Hoss und stand von seinem Schreibtisch
auf. Robert saß in der orangenen Knastuniform vor ihm,
die Hände auf dem Schoß, mit hängenden Schultern. Von
hinten sah er aus, als wartete er auf seinen Henker.
«Possum zahlt deine Kaution», erklärte Jeffrey.
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Robert ließ die Schultern noch tiefer sinken. «Das soll
er nicht.»
«Er hat eine Hypothek auf den Laden aufgenommen.»
«O Gott», stöhnte Robert. «Warum hat er das getan?»
«Er konnte nicht mit ansehen, wie du hier drin sitzt»,
sagte Jeffrey und versuchte, Hoss' Blick aufzufangen. Doch
der Alte starrte hinaus auf den Parkplatz. Jeffrey hatte das
Gefühl, er hatte die beiden bei irgendetwas unterbrochen.
«Ich muss sagen, ich bin auch nicht gerade begeistert davon.»
Robert sagte: «Mir geht's gut.»
Jeffrey wartete, dass er sich umdrehte, aber Robert
rührte sich nicht. «Bobby?»
Endlich warf er Jeffrey einen kurzen Blick über die
Schulter zu, doch es reichte, um zu sehen, dass er ein
blaues Auge und eine aufgeplatzte Lippe hatte. Jeffrey
kam zu ihm, um ihn sich genauer anzusehen. Robert war
grün und blau geprügelt worden, und am linken Arm trug
er einen dicken Verband. Jeffrey ballte die Fäuste. «Wer
war das?»
Hoss antwortete: «Ist ein bisschen wild zugegangen
gestern Nacht.»
«Warum war er nicht in einer Einzelzelle?», bellte Jef‐
frey.
«Er wollte keine Sonderbehandlung.»
«Sonderbehandlung?», wiederholte Jeffrey fassungslos.
«Gott im Himmel, das ist keine Sonderbehandlung, das ist
Menschenverstand.»
«Mir
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