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Schattenblume

Schattenblume

Titel: Schattenblume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Slaughter
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versuchte, die Dose zu öffnen.
    «Ich meinte, was wir getan haben», sagte er, dann be‐
    richtigte er sich. «Ich meine, was ich getan habe.»
    «Schon gut.»
    «Nein, ist es nicht.» Er nahm ihr das Lötwasser aus der Hand und machte es für sie auf. «Ich ...» Er suchte nach Worten. «Normalerweise bin ich nicht so egoistisch.»
    «Vergiss es», sagte sie, doch irgendwie tröstete sie seine tölpelhafte Entschuldigung. Sie tauchte den Pinsel in das
    Lötwasser und bestrich damit das Knie, das Jeffrey abge‐

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    schmirgelt hatte. «Ich muss mit dir über das Skelett sprechen.»
    Plötzlich änderte sich seine Miene. Sie konnte förmlich
    zusehen, wie er eine Schutzmauer aufbaute. «Was ist da‐
    mit?»
    «Es ist eine Frau. Eine junge Frau.»
    Er sah sie an. «Bist du dir sicher?»
    «Der Schädel weist darauf hin. Männer haben größere
    Schädel.» Sie nahm den Zollstock und maß die Distanz
    vom Waschbecken zu dem abgesägten Rohr im Boden.
    «Außerdem sind männliche Schädel schwerer und haben
    meistens stark ausgeprägte Augenbrauenbogen.» Sie maß
    die Länge des Rohrs ab und spannte es an der richtigen
    Stelle in den Rohrabschneider. «Männer haben längere
    Eckzähne und breitere Wirbel», fuhr sie fort und drehte
    das Schneidrädchen, bis das Rohr durch war. «Dann das
    Becken. Frauen haben breitere Becken, um zu gebären.»
    Sie schmirgelte das Ende des Rohrs ab. «Und dann gibt
    es noch den Schambeinwinkel. Der ist bei Männern unter
    neunzig Grad, bei Frauen liegt er darüber.»
    Er strich Lötwasser auf das Rohr, während sich Sara
    die Schutzbrille aufsetzte. Ohne die Miene zu verziehen,
    schob er das Knie auf das Rohr und wartete, dass Sara den
    Brenner mit einem Streichholz anzündete. Dann fragte er:
    «Woher weißt du, dass sie noch jung war?»
    Sara stellte die Flamme ein, dann hielt sie den Bren‐
    ner an das Rohr und erhitzte es, bis das Lötwasser Blasen schlug. «Das Becken. Die Schambeine treffen sich vorne.
    Bei jungen Menschen ist die Oberfläche der Knochen noch
    uneben. Alte Leute haben glattere Knochen.»
    Sie stellte den Brenner ab, hielt das Lötmittel dagegen
    und sah zu, wie es verschmolz. Dann fuhr sie fort. «Am

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    Schambein ist eine Vertiefung. Wenn eine Frau ein Kind
    bekommt, entsteht an der Stelle, wo sich die Knochen für den Kopf des Babys auseinander schieben, eine Einker-bung.»
    Jeffrey schien die Luft anzuhalten. Als Sara nicht wei‐
    ter erzählte, fragte er: «Hatte sie ein Kind?»
    «Ja», sagte sie. «Sie hatte ein Kind.»
    Jeffrey legte das Rohr vor sich auf den Boden.
    «Wer ist Julia?»
    Er atmete langsam aus. «Hat Nell es dir nicht gesagt?»
    «Sie hat gesagt, ich soll dich fragen.»
    Jeffrey lehnte sich gegen den Küchenschrank und ging
    in die Hocke. Er sah ihr nicht in die Augen. «Es ist lange her.»
    «Wie lange?»
    «Zehn Jahre, schätze ich. Vielleicht länger.»
    «Und?»
    «Und sie war ... Ich weiß nicht. Es klingt vielleicht
    schlimm, aber sie war so etwas wie die Dorfnutte.» Er
    wischte sich über den Mund. «Sie hat alles gemacht. Du
    weißt schon, die Jungs angefasst.» Er sah sie kurz an, dann
    sah er wieder weg. «Es ging das Gerücht, dass sie einem ei‐
    nen bläst, wenn man ihr was spendierte. Kleider, Mittag‐
    essen, irgendwas. Sie hatte nicht viel und ...»
    «Wie alt war sie da?»
    «So alt wie wir», sagte er. «Sie war bei Robert und mir in der Klasse.»
    Sara dämmerte, worauf es hinauslief. «Hast du ihr mal
    was spendiert?»
    Er sah gekränkt aus. «Nein», sagte er. «Ich musste für so was nicht bezahlen.»
    «Natürlich nicht.»

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    «Willst du die Geschichte hören oder nicht?»
    «Ich will, dass du mir sagst, was passiert ist.»
    «Irgendwann war sie einfach weg», sagte Jeffrey mit
    einem Achselzucken. «An einem Tag war sie noch da, am
    nächsten war sie fort.»
    «Da steckt doch mehr dahinter.»
    «Ich ...» Er brach ab. «Das hier habe ich gestern in der Höhle gefunden», sagte er dann und griff in die Hosentasche. Sara sah die Kette mit dem Medaillon.
    «Warum hast du mir gestern nichts davon gesagt?»
    Er öffnete das Medaillon und sah hinein. «Ich weiß
    nicht. Ich habe einfach –» Er hielt inne. «Ich wollte nicht, dass du noch mehr miese Gerüchte über mich hörst.»
    «Was für miese Gerüchte?»
    «Gerede», sagte er, und ihre Blicke trafen sich. «Es ist nur Gerede, Sara. Der ewige alte Mist, der an mir klebt.
    Wenn man hier einmal einen Fehler macht, schieben einem
    die Leute einfach

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