Schattenblume
Schein
der Taschenlampe noch abschreckender.
Sara schien sich weigern zu wollen, doch dann gab sie
auf. Vielleicht war Jeffreys Zustand so ernst, dass sie nicht länger warten konnten. Vielleicht wollte sie Zeit schinden.
So oder so, Sara sah nicht besonders zuversichtlich aus.
Sie nahm ein paar Handschuhe aus dem Karton und zog
sie an. Lena sah, dass sie Angst hatte, und sie fragte sich, ob Sara in der Lage war, eine Kugel aus Jeffreys Arm zu entfernen, wenn ihr Selbstvertrauen so erschüttert war.
Doch Saras Hände wurden ruhiger, sobald sie nach der
Schere griff und Jeffreys Hemd aufschnitt. Falls er wach
war, bewegte er sich nicht. Lena hoffte, er bekam nicht mit,
was vor sich ging.
«Lena», sagte Sara. «Ich muss wissen, ob das das rich‐
tige Lidocain ist.»
Lena war die Brisanz der Frage durchaus bewusst.
«Keine Ahnung», sagte sie.
«Warum hat Molly so viel Aufhebens darum gemacht?»
«Ich weiß es nicht», erklärte Lena. «Vielleicht dachte
sie, sie könnte ihn damit ausschalten.» Sie meinte Smith.
Sara nahm das Fläschchen und öffnete die Kappe. Dann
griff sie nach einer Spritze und zog sie auf.
Zu Smith sagte sie: «Säubern Sie die Wunde mit Be‐
tadin.»
Smith protestierte nicht, er tupfte Jeffreys Arm sogar
mit Watte ab. Als die Wunde einigermaßen vom Blut be‐
freit war, entdeckte Lena ein kleines Loch an Jeffreys
Oberarm in der Nähe der Achsel.
429
Sara nahm die Spritze und hielt sie über die Wunde. Zu
Lena sagte sie: «Bist du sicher?»
«Ich weiß nicht», wiederholte Lena demonstrativ, doch
sie versuchte, Sara mit Blicken zu sagen, dass alles in Ordnung war. Smith ließ sie nicht aus den Augen.
Sara stach die Nadel direkt in die Wunde, und unwill‐
kürlich atmete Lena durch die Zähne ein. Sie spürte den
Schmerz in ihrem eigenen Arm und zwang sich wegzu‐
sehen. Im Augenwinkel sah sie, dass Brad sich Sonnys
Position näherte. Er leckte sich die Lippen, den Blick auf eine Stelle über ihrem Kopf gerichtet. Lena erriet, dass er die Wanduhr im Auge hatte, und plötzlich stieg Panik bei dem Gedanken in ihr auf, dass ihnen die Zeit davonlief.
Da Smith Sara mit der Taschenlampe leuchtete, hatte
Lena seine Navy‐Uhr voll im Blick. Die Uhr hatte alle
möglichen Knöpfe und Anzeigen, und Lena fiel ein, dass
es in der Werbung hieß, die Uhr sei mit der Atomuhr in Colorado synchronisiert. Die Uhr war riesig, ein dicker
Metallklotz an Smiths Handgelenk. In der Mitte war ein
Digital‐Display, das die Zeit auf die Sekunde genau angab.
15:19:12.
Zwölf Minuten. Doch zeigte die Uhr dieselbe Zeit an
wie ihre? Wie Mollys und Nicks? Lena wagte es nicht, auf ihre eigene Uhr zu sehen oder auf die Uhr an der Wand.
Smith würde sofort kapieren, was los war, und dann wür‐
den sie alle sterben.
«Skalpell», sagte Sara und streckte die Hand aus.
Smith drückte ihr das Skalpell in die Hand, und Sara
schnitt die Haut ein, dem Weg der Kugel folgend. Nach
und nach injizierte sie den ganzen Inhalt der Spritze in die offene Wunde. Lena versuchte, nicht hinzusehen, doch sie
war wie hypnotisiert vom Innenleben von Jeffreys Arm.
430
Sara schien zu wissen, was sie tat, und Lena war es ein Rät‐
sel, wie sie es schaffte, ruhig zu bleiben. Es war, als wäre sie
ein anderer Mensch geworden.
«Ich brauche mehr Licht», sagte Sara zu Smith, und
er hielt die Taschenlampe näher an die Wunde, während
sie nach der Kugel suchte. «Noch näher», sagte sie, aber Smith bewegte sich nicht. Sara fluchte leise und wischte
sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Sie
beugte sich hinunter, um besser sehen zu können, und
verrenkte sich fast den Hals.
Jeffrey stöhnte leise, doch er schien nicht aufzuwachen.
Sara sagte zu Lena: «Achte darauf, ob er atmet.»
Lena legte eine Hand auf Jeffreys Brust und spürte, dass
sich sein Brustkorb sanft hob und senkte. Ganz langsam
drehte sie das Handgelenk und versuchte, einen Blick auf
ihre Uhr zu erhaschen. Es war heiß, und Schweiß rann ihr den Arm hinunter. Das Metallband war verrutscht, und
die Uhr hing jetzt auf der Innenseite ihres Handgelenks,
sodass sie das Display nicht lesen konnte.
Sara zuckte zurück, als ihr ein Blutstrahl entgegen‐
spritzte. Sie wischte sich mit dem Handrücken das Blut aus
dem Gesicht und arbeitete weiter. «Zange», verlangte sie.
Smith suchte mit einer Hand nach der Zange, mit der
anderen hielt er die Lampe. Sara wischte das Blut mit Gaze
ab und sagte: «Ich sehe
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