Schattenblume
sie war immer noch an einen Stuhl gefesselt, lag noch immer mit dem Gesicht auf den Dielen.
Nicht aufgeben, dachte Sara. Dieses Motto hatte sie
durch das Medizinstudium gebracht.
Sie konzentrierte sich auf ihren Arm und überlegte, ob
sie das Klebeband zwischen die Zähne bekommen könnte.
Das Band schnitt ihr in die Brust, sie wollte gar nicht daran
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denken, wie die Quetschungen aussehen würden. Doch
Sara wusste, dass blaue Flecken irgendwann wieder ver‐
schwanden.
Plötzlich hörte sie ein Geräusch vorn im Haus. Sie öff‐
nete den Mund, um zu schreien, doch dann zögerte sie.
Hatte Robert seine Meinung geändert? Kam er zurück,
um sein Werk zu vollenden?
Schritte knirschten auf dem Glas des zerbrochenen
Couchtischs, aber keiner rief. Wer auch immer ins Haus
gekommen war, er ließ sich Zeit. Langsam ging er von
Zimmer zu Zimmer. Sie hörte ein Geräusch aus der Küche.
Hatte Robert nur etwas vergessen? Hatte er noch etwas
anderes holen wollen außer Possums Pistole? Wenn es
jemand war, der hierher gehörte, hätte er doch sicher gerufen.
Sara biss die Zähne zusammen und versuchte den
Schmerz zu unterdrücken, als sie an ihrer Hand riss. Sie wälzte und wand sich, so gut sie konnte, und hinterließ dabei tiefe Kratzer auf Nells schönen Dielen. Immer noch
versuchte sie, das Klebeband zwischen die Zähne zu be‐
kommen.
«Sara?» In der Tür stand Jeffrey, Nells Axt in der Hand.
«Großer Gott», rief er und sah sich im Zimmer nach dem
Eindringling um, der das Haus verwüstet hatte.
«Er ist fort», keuchte Sara, die immer noch an ihrer
Hand riss.
Jeffrey ließ die Axt fallen und rannte zu ihr. «Bist du verletzt?» Er berührte ihr Auge. «Du blutest.» Er sah sich um. «Wer hat dir das angetan? Wer zum Teufel –»
«Mach mich los», ächzte sie. Wenn sie noch eine Se‐
kunde länger an diesen Stuhl gefesselt bliebe, würde sie zu
schreien anfangen und nie wieder aufhören.
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Jeffrey holte sein Taschenmesser heraus und schnitt das
Klebeband auf.
«O Gott», stöhnte Sara, als sie sich aus dem Stuhl rollte.
Kraftlos blieb sie auf dem Rücken liegen. Ihre Schulter tat höllisch weh, ihr ganzer Körper fühlte sich geschunden
und zerschlagen an.
«Alles in Ordnung», sagte Jeffrey und massierte ihr die
Hände, um die Durchblutung anzuregen.
«Robert‐»
Jeffrey schien nicht allzu überrascht von der Nachricht,
dass sein Freund Sara das angetan hatte. «Hat er dir wehgetan?» Seine Miene verfinsterte sich. «Hat er –»
Sara dachte an alles, was geschehen war, was Robert so
weit getrieben hatte. Dann sagte sie: «Er wollte mir nur Angst einjagen.»
Jeffrey berührte ihr Gesicht, untersuchte die Wunde
über ihrem Auge und die aufgeplatzte Lippe. Er küsste
sie auf die Stirn, die Lider, den Nacken, als würde er sie mit seinen Küssen heilen können. Und irgendwie fühlte es
sich auch so an. Ohne weiter nachzudenken, merkte Sara,
wie sich all ihr Widerstand auflöste, und sie hielt sich mit aller Kraft an ihm fest.
«Alles wird gut», sagte er und streichelte ihr den Rü‐
cken. «Alles wird gut», sagte er immer wieder.
«Es geht mir gut», sagte sie dann und spürte tief in
ihrem Innern, dass es stimmte.
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KAPITEL DREIUNDZWANZIG
15.17 Uhr
Smith sah sie grinsend an und wartete auf ihre Reak‐
tion. «Er hat meine Mutter vergewaltigt», wiederholte
er. «Und dann hat er sie umgebracht, um ihr das Maul zu stopfen.»
Lena war weder schockiert noch entsetzt. «Nein, das hat
er nicht», sagte sie. Noch nie war sie sich einer Sache so sicher gewesen. «Ich kenne die Art von Männern, die zu so
was in der Lage sind, und Jeffrey gehört nicht dazu.»
«Was weißt du schon?», fragte Smith.
«Genug.» Mehr sagte sie nicht.
Smith schnalzte mit der Zunge. «Du hast doch keine
Ahnung», sagte er trotzig. Dann bellte er Sara an: «Lass uns anfangen,»
«Ich kann keine Nervenblockade durchführen», entgeg‐
nete Sara. «Der Plexus brachialis ist viel zu kompliziert.»
«Du musst auch keine Blockade durchführen», erklärte
Smith. «Er ist bewusstlos.»
«Seien Sie nicht albern.»
«Pass auf, Lady», warnte er. Er durchsuchte den Kof‐
fer, den Lena aus dem Krankenwagen mitgebracht hatte.
«Nimm das», sagte er und hielt ihr eine Ampulle Lidocain 428
hin. Er fand auch eine Taschenlampe und leuchtete sich
damit ins Gesicht. «Damit du was siehst.»
Sara bewegte sich nicht.
«Mach schon», befahl er, sein Gesicht wirkte im
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