Schattenblume
strengsten medizinischen Fakultäten des Landes
ihren Abschluss gemacht und zu den besten ihres Jahr‐
gangs gehört hatte, fühlte sie sich in Gegenwart von
Frauen, die kochen konnten, immer minderwertig. Dass
erste und letzte Mal, dass sie einen Freund bekocht hatte, hatte damit geendet, dass sie zwei Töpfe und den Mülleimer wegschmeißen musste.
Nell sagte: «Meine Beziehung zu Jessie ist ein ewiges
Auf und Ab. Vielleicht, weil Robert und Possum uns zwin‐
gen, die ganze Zeit zusammenzuhocken, und einfach er‐
warten, dass wir uns prächtig verstehen. Meistens geht es 174
gut, aber manchmal würd ich ihr am liebsten eine knallen, damit sie zur Besinnung kommt.» Sie ließ die Gabel über
der Pfanne abtropfen und legte sie auf einer Serviette ab.
«Aber jetzt tut sie mir einfach nur Leid.»
«Schlimme Sache.»
Mit einem Bratenwender drehte Nell die Pfannkuchen
um. «Bobby ist ein echter Schatz, aber bei Männern weiß
man nie, was man hat, bis man daheim ist und sie aus
der Packung nimmt. Vielleicht schmatzt er beim Essen.
Als Possum vor ein paar Jahren damit anfing, hab ich ihm mit dem Baseballschläger gedroht.» Sie lud die Pfannkuchen und etwas Rührei auf einen Teller und stellte ihn Sara hin. «Speck?»
«Nein, danke.»
Nell nahm drei Streifen gebratenen Speck und legte sie
auf Saras Teller. «Ich hab sie nie leiden können. Bis vor ein
paar Monaten. Da hatte sie eine Fehlgeburt. Ich bin jeden Tag bei ihr gewesen, damit sie keine Dummheiten macht.
Die beiden sind daran fast zerbrochen. Seit ich sie kenne, wollte Jessie ein Kind. Schon in der Mittelstufe. Doch sie hat nie eins kriegen können.»
Sara goss sich Ahornsirup über die Pfannkuchen. Es
waren vier vollkommene Kreise, gleichmäßig dick. «Was
für Dummheiten hätte Jessie machen sollen?»
«Pillen», sagte Nell und wendete die nächsten Pfann‐
kuchen. «Sie hat schon mal zu viele Pillen geschluckt.
Wenn du mich fragst, wollte sie nur Aufmerksamkeit er‐
regen. Robert macht nicht den Eindruck, als ob er ihr zu wenig Aufmerksamkeit schenkt, aber man weiß ja nie.»
«Nein», bestätigte Sara, den Mund voll Speck. Bis ges‐
tern Abend hätte sie auch nie gedacht, dass Jeffrey fähig wäre, ihr zu drohen. Sie konnte immer noch den Luft-175
hauch spüren, als er eine Handbreit neben ihrem Gesicht
mit der Faust gegen die Wand geschlagen hatte. «Würde
sie ihn je betrügen?»
«Ha», Nell lachte, während sie sich den Teller voll lud.
Sie setzte sich Sara gegenüber an den Tisch und bediente sich großzügig mit Ahornsirup. «Wenn, dann müsste sie
sich jemanden in Alaska suchen. Robert weiß über alles
Bescheid, was hier passiert. Wahrscheinlich wird er She‐
riff, wenn der Alte abdankt. Hoss sitzt seit ewigen Zeiten auf seinem Sessel. Und ich schätze, irgendwann müssen
sie ihn mit den Füßen zuerst aus dem Büro tragen. Aber
wie ich die Leute hier kenne, würden sie ihn noch wählen, wenn er schon tot ist.»
«Es gibt hier keine eigene Polizeitruppe, nur das Büro
des Sheriffs?»
Nell nahm eine Gabel voll Ei. «Weißt du, wie klein die‐
ses Nest ist? Wenn wir auch noch mehrere Cops hätten,
wer würde dann die Tankstelle führen?» Sie stand auf.
«Saft?»
«Nein, danke.»
Nell nahm zwei Gläser aus dem Schrank und stellte sie
auf den Tisch. «Wenn Jeffrey hier geblieben wäre, hätte
sich Hoss natürlich längst zur Ruhe gesetzt.»
«Warum?»
Sie schenkte Saft ein. «Thronfolger. Roberts Vater war
ein Versager, aber besser einen Versager zum Vater als jemanden wie Jimmy Tolliver. Der Mann war ein Monster.
Jeffrey redet nicht darüber, aber die Narbe unter seiner
Schulter hat er von seinem Daddy. »
Sara kannte die Narbe, doch sie hatte nie danach ge‐
fragt, um nicht über ihre eigene Narbe reden zu müssen.
Jetzt fragte sie: «Was ist passiert?»
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Nell setzte sich wieder. «Ich war dabei», sagte sie und
nahm einen Bissen von ihrem Pfannkuchen. Ungeduldig
wartete Sara, dass sie fertig gekaut hatte. Ausnahmsweise
interessierte sie, was Nell zu sagen hatte. Endlich schluckte
sie runter. «May hat ihn beleidigt, und da hat er sich auf sie gestürzt. Jimmy ist total ausgerastet. So was hab ich noch nie gesehen. Hoffentlich muss ich das auch nie wieder sehen.» Wieder klopfte sie auf Holz.
Sara schluckte, obwohl sie nichts im Mund hatte. «Sein
Vater hat seine Mutter geschlagen?»
«Schätzchen, geschlagen hat er sie die ganze Zeit.
May war so was wie Jimmys
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