Schattenblume
informieren, doch ein Blick hatte genügt und sie
wusste, dass Hollister, wie Jeffrey, auf jeden Fall hinter Robert stand, solange es Zweifel an seiner Schuld gab.
Clayton «Hoss» Hollister war ein Südstaatler der alten
Schule, vom Spitznamen bis zu den Cowboy stiefeln. Sara
wusste, wie das System hier funktionierte. Ihr Vater ge‐
hörte zwar nicht zum Kern der Clique, die in Grant
County das Sagen hatte – er hasste Verpflichtungen –,
doch er spielte mit den meisten von ihnen Karten. Schon in
ihrer ersten Woche als Gerichtsmedizinerin hatte Sara die
Gepflogenheiten kennen gelernt, als der Bürgermeister ihr
erklärte, dass das County einen Exklusivvertrag mit der
Firma seines Schwagers hatte und der gesamte medizini‐
sche Bedarf ausschließlich dort bestellt wurde, egal zu wel‐
chem Preis.
Sara wollte sich Roberts Wunde heute noch einmal an‐
sehen, und auch wenn Jeffrey sein Versprechen, sie die
Obduktion durchführen zu lassen, nicht hielt – oder halten
konnte –, wollte sie zumindest dabei sein, wenn die Lei‐
che des Einbrechers untersucht wurde – oder des Opfers,
je nach Betrachtungsweise. Danach wollte Sara nur noch
eins – so schnell wie möglich aus Sylacauga verschwinden.
Allein. Sie musste Abstand gewinnen, um sich zu sam‐
meln und in Ruhe darüber nachzudenken, wie sie nach
dem Ausbruch von gestern Nacht zu Jeffrey stand.
Vorsichtig stand Sara auf. Ihr Fuß schmerzte nach dem
spontanen Dauerlauf gestern Abend, sie musste wohl in
eine Scherbe getreten sein. Auf dem Weg zum Highway
würde sie sich Pflaster besorgen.
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Nell lächelte müde, als Sara in die Küche humpelte.
«Die Kinder schlafen noch 'ne Stunde.»
Sara versuchte höflich zu sein. «Wie alt sind sie?»
«Jared ist zehn, Jennifer zehn Monate jünger.»
Sara zog die Brauen hoch.
«Keine Sorge, sobald Jen draußen war, hab ich mich so‐
fort sterilisieren lassen.» Nell nahm eine Tasse aus dem
Schrank. «Schwarz?» Sara nickte. «Jen ist die schlauere
von beiden. Sag das nicht zu Jared, aber in der Schule ist Jen jetzt schon ein Jahr weiter. Er ist selbst schuld – er ist nicht auf den Kopf gefallen, aber er interessiert sich eben mehr für Sport als für Bücher. Jungen in dem Alter können einfach nicht still sitzen. Aber das kennst du ja von deinem Job.» Sie stellte Sara die Tasse hin und schenkte ein. «Schätze, wenn du mal heiratest, willst du einen ganzen Stall voll Kinder.»
Sara starrte in den dampfenden Kaffee. «Ich kann keine
Kinder bekommen.»
«Oh», sagte Nell. «Da bin ich ja mal wieder ins Fett‐
näpfchen getreten. Ist mein Hobby.»
«Schon gut.»
Nell setzte sich mit einem tiefen Seufzer an den Küchen‐
tisch. «Mein Gott, ich und meine Neugier. Wenigstens
damit hat meine Mutter Recht.»
Sara zwang sich zu einem Lächeln. «Schon gut, wirk‐
lich.»
«Ich werd dich nicht löchern», bohrte Nell weiter, um
klarzustellen, dass sie für freiwillige Geständnisse offen
war.
«Bauchhöhlenschwangerschaft», erklärte Sara, mehr
sagte sie nicht.
«Weiß Jeffrey davon?»
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Sie schüttelte den Kopf.
«Du kannst welche adoptieren.»
«Sagt meine Mutter auch immer», sagte Sara, und
zum ersten Mal sprach sie den Grund aus, warum sie der
Gedanke an Adoption abschreckte. «Ich weiß, es klingt
schrecklich, aber ich kümmere mich den ganzen Tag
um die Kinder anderer Leute. Wenn ich nach Hause
komme ...»
«Mir brauchst du nichts zu erklären», sagte Nell. Sie
nahm Saras Hand und drückte sie. «Und Jeffrey macht es
bestimmt nichts aus.»
Sara biss sich auf die Lippe, und Nell quittierte es mit einem tiefen Seufzer.
«Oje. Überraschen tut's mich nicht, aber ich hätte euch
gewünscht, dass es ein bisschen länger hält.»
«Tut mir Leid. »
«Vergiss es.» Nell klopfte sich auf den Schenkel, dann
stand sie auf. «Ich mag dich trotzdem. Außerdem hat Jef‐
frey auch mal einen Dämpfer verdient. Glaub mir, es
ist das erste gottverdammte Mal, dass er sitzen gelassen wird.»
Sara blickte wieder in ihre Kaffeetasse.
«Willst du Pfannkuchen?»
«Ich habe keinen großen Hunger», sagte Sara, doch ihr
Magen knurrte.
«Ich auch nicht.» Nell holte die Pfanne heraus. «Drei
oder vier?»
«Vier.»
Nell stellte die Pfanne auf den Herd und begann den
Teig anzurühren. Sara sah zu und dachte dabei an ihre
Mutter, der sie Tausende von Malen beim Pfannkuchen‐
machen zugesehen hatte. Es war tröstlich, hier in der Kü‐
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che zu
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