Schattenblume
ein Stück
von der Gruppe entfernt und starrte mit offenem Mund
und leerem Blick zu Boden. Sara hatte panische Angst,
dass die alte Frau hysterisch werden und Jeffreys wahre
Identität verraten könnte. Es lief ihr kalt über den Rücken, als sie sich eingestand, dass sie, falls sie eine Wahl treffen musste, alles tun würde, um Jeffrey zu schützen.
Sara lehnte den Kopf gegen die Wand und riskierte
einen Blick auf Smith. Er lief wieder auf und ab und murmelte dabei vor sich hin. Er hatte den Mantel ausgezo‐
gen und stellte seinen absolut durchtrainierten Körper zur Schau. Stahlharte Muskeln zeichneten sich unter dem
T‐Shirt ab. Auf dem rechten Bizeps war ein großer blauer Adler eintätowiert, und bei jedem zweiten Schritt versuchte Sara die Inschrift darunter zu entziffern, doch ohne
Erfolg.
Wie sein Komplize trug er Armeehosen und Springer‐
stiefel. Die kugelsichere Weste war bei der Hitze wahr‐
scheinlich wie eine Zwangsjacke, doch er löste nicht einmal
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die Schnallen. Aus jeder Pore schien er eine animalische
Angriffslust auszudünsten, und doch war es der zweite
Schütze, der stillere von beiden, der Sara mehr Angst ein-jagte. Er befolgte Befehle, führte aus, was immer man ihm
auftrug, ganz egal, ob es darum ging, auf kleine Kinder zu zielen oder einem Polizisten den Kopf wegzupusten. Dieser Charaktertyp war unter jungen Männern nicht unge‐
wöhnlich – das Militär versuchte bevorzugt diese Sorte
Jungs zu rekrutieren –, doch Smith und er zusammen bil‐
deten das explosive Gemisch. Falls Smith etwas zustieß,
wäre der zweite Schütze vollkommen unberechenbar.
Wenn man einem Skorpion den Kopf abhackte, war der
Schwanz immer noch tödlich.
Jeffrey bewegte sich in Saras Schoß, und sie legte ihm
beruhigend die Hand auf die gesunde Schulter. «Alles wird gut», flüsterte sie.
Er rieb sich die Augen wie ein müdes Kind. Er hatte den Abdruck einer Falte ihres Kleides im Gesicht, und sie hätte die Linie am liebsten weggeküsst.
«Wie spät ist es?»
Sie sah auf die Uhr. «Halb zwei», sagte sie und strich
ihm eine Strähne aus der Stirn. «Weißt du, wo wir sind?»
Er atmete tief ein, dann wieder aus. «Ich habe geträumt, wie ich mit meiner Frau zum allerersten Mal Liebe gemacht habe. »
Sie presste die Lippen zusammen. Sie wünschte sich so
sehnlich, sie könnte die Zeit zurückdrehen, dass ihr die
Tränen kamen.
Er fuhr fort. «Wir waren in meinem Elternhaus, auf
dem Fußboden in meinem Kinderzimmer ...»
«Schsch», machte sie. Sie wollte nicht, dass er zu viel
redete.
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Er verstand und schloss die Augen, als wollte er die Erinnerung noch nicht gehen lassen. Als er die Augen wie‐
der öffnete, konnte Sara sehen, wie stark seine Schmerzen
waren. Doch er klagte nicht. Stattdessen sagte er: «Das
verdammte Telefon macht mich noch verrückt.»
«Ich weiß.» Fast wünschte sie, die Männer würden den
Stecker rausziehen, wenn sie schon nicht drangingen. Sie
wartete das nächste Klingeln ab, dann fragte sie: «Hast du große Schmerzen?»
Er schüttelte den Kopf, aber sie wusste, dass er log. Er war schweißgebadet, nicht nur von der Hitze. Die Wunde
blutete nicht mehr, aber vielleicht hatte er innere Blutungen. Sein Arm fühlte sich eiskalt an, der Puls war unregelmäßig. Wahrscheinlich klemmte die Kugel zwischen der
verletzten Arterie und einem Nerv. Wenn Jeffrey sich be‐
wegte, hatte er unerträgliche Schmerzen. Außerdem barg
jede Bewegung das Risiko, dass sich die Kugel verschob.
Die Wunde war zu weit oben, als dass sie den Arm hätte abbinden können. Das Einzige, was ihn im Moment vor
dem Verbluten bewahrte, war die Kugel selbst. Wenn nicht
bald Hilfe kam, wusste Sara nicht, wie lange er noch
durchhalten würde.
«Ich habe gerade daran gedacht», sagte sie, ihre Stimme
war kaum mehr als ein Flüstern, «wie sehr du dich ...» Sie blickte auf, doch Smith unterhielt sich mit seinem Komplizen. «Wie viel sich verändert hat», sagte sie dann. Er war so anders als der Mann, in den sie sich einst verliebt hatte,
und doch war so vieles noch genauso wie damals. Die Zeit
hatte ihn veredelt, ihn geschliffen wie einen Diamanten.
«Wo sind sie?», fragte er und versuchte sich aufzu‐
setzen.
Als sie ihn sanft zurückdrückte, blieb er, wo er war.
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Selbst die Tatsache, dass er sich so kraftlos ergab, machte Sara Angst. «Sie sind vorne», sagte sie. «Sie haben Allison bei sich.»
«Ruth Lippmans Tochter?», fragte er und
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