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Schattenblume

Schattenblume

Titel: Schattenblume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Slaughter
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hob schwach
    den Kopf. Sie ließ ihn einen Blick auf das Mädchen wer‐
    fen, bevor sie ihn wieder nach unten drückte. Allison saß mit baumelnden Beinen auf dem Anmeldungstresen. Auf
    dem Schienbein prangte eine rote Schnittwunde. Letzte
    Woche war sie mit dem Fahrrad gestürzt, als sie ein be‐
    sonders waghalsiges Kunststück machen wollte. Sara hatte
    die Wunde mit zwei Stichen genäht und Allison für einen
    Lutscher das Versprechen abgenommen, dass sie beim
    nächsten Mal vorsichtiger wäre.
    Smith ging jetzt nicht mehr auf und ab, sondern war bei Allison stehen geblieben, die Schrotflinte in der Armbeuge. Der zweite Schütze stand auf der anderen Seite des
    Mädchens, das Gewehr, mit dem er immer noch auf den
    Eingang zielte, lag auf dem Tresen. Smith sah aufmerksam
    herüber, und Sara wusste, dass er jedes Wort verstand.
    «Dein Arm macht mir Sorgen», sagte sie zu Jeffrey.
    «Es geht schon.» Wieder versuchte er, sich aufzurichten.
    «Nicht», sagte sie. «Bitte. Du darfst dich nicht mehr bewegen, als unbedingt nötig.»
    Jeffrey schien die Sorge in ihrer Stimme zu hören, denn
    er gab nach.
    Er fragte: «Haben sie Forderungen gestellt?»
    Sie schüttelte den Kopf und versuchte Smiths Blick aus‐
    zuweichen. Sara hatte ihr halbes Leben in der Pädiatrie
    verbracht. Auch wenn Smith kein Kind mehr war, er kam
    ihr vor, als wäre er noch lange nicht erwachsen. Sie wusste,
    wie aggressiv heranwachsende Männer werden konnten,
    wenn man sie reizte, vor allem wenn sie Publikum hatten.

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    Sara wollte nicht erschossen werden, nur weil Smith sei‐
    nem Freund etwas beweisen musste.
    Jeffrey versuchte, sich bequemer hinzulegen, und sie
    betete, er würde seinem Arm nicht noch schlimmeren
    Schaden zufügen. Leise fragte er: «Der eine scheint dich zu
    kennen. Hast du ihn wieder erkannt?»
    Wieder schüttelte sie den Kopf. Sie wünschte, sie könn‐
    te ihm sagen, dass sie wusste, wer die Schützen waren und
    was sie hier wollten. Im Geist war sie die letzten fünfzehn Jahre von Grant County bis Atlanta durchgegangen. Sie
    hätte sich bestimmt an Smith erinnert, wenn er ein Patient
    gewesen wäre. Doch selbst wenn sie ihn vergessen haben
    sollte, warum sollte er hierher gekommen sein, um Jeffrey
    umzubringen? Oder handelte er vielleicht im Auftrag sei‐
    nes Freundes? Sara versuchte, einen besseren Blick auf den
    Komplizen zu bekommen. Er hatte die Mütze noch immer
    tief ins Gesicht gezogen, doch die Sonne, die durch den
    Spalt an der Eingangstür fiel, erhellte seine Augen. Sie waren vollkommen leer, wie eine Pfütze trüben Wassers.
    Plötzlich merkte Sara, dass Smith beobachtete, wie sie
    seinen Freund anstarrte. Hastig zwang sie sich, Allison zu-zulächeln. Die Kleine hockte in sich zusammengesunken
    auf dem Tresen, der Rock bauschte sich um ihre Knie. Trä‐
    nen liefen ihr über das Gesicht. Ruth Lippman war Saras
    Englischlehrerin in der zehnten Klasse gewesen. Sie war
    streng, konnte aber die Schüler begeistern, und Sara hatte
    sie dafür geliebt.
    «Er hat kaum einen Akzent», sagte Jeffrey. Es stimmte.
    Nur wenn Smith sich aufregte, hörte man, dass er aus dem
    Süden kam, ansonsten sprach er ein farbloses, unmelodiö‐
    ses Englisch, wie man es beim Militär eingebläut bekam.
    Aber vielleicht reimte Sara sich das nur zusammen. Wahr‐

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    scheinlich wollte er nur unbedingt Soldat sein; vielleicht war sein Vater ein hohes Tier beim Militär gewesen, aber mit seiner Kriminalakte und seinem psychologisches Profil wurde er selbst nicht einmal zur Grundausbildung zu‐
    gelassen.
    Jeffrey blinzelte.
    «Versuch zu schlafen.»
    «Ich darf nicht», sagte er, doch seine Lider flatterten, und
    schließlich schloss er die Augen.
    Sara sah zu Smith, der die ganze Szene beobachtet
    hatte. Sie versuchte, ihrer Stimme einen festen Klang zu
    verleihen, doch sie konnte das Zittern nicht unterdrücken.
    «Er braucht medizinische Versorgung. Bitte lassen Sie ihn
    gehen.»
    Smith verzog den Mund, als würde er tatsächlich dar‐
    über nachdenken. Neben ihm rührte sich sein Komplize.
    Er murmelte etwas, und dann ging Smith zum Telefon und
    nahm mit Schwung ab.
    Er sagte: «Wir tauschen die alte Frau gegen Sandwiches
    und Wasser ein. Und zwar ohne irgendwelche Zusätze.
    Wir haben ein paar Vorkoster hier.» Dann legte er den
    Kopf schräg und lauschte der Antwort. «Nein. Vergessen
    Sie es.» Nach einer weiteren Pause drehte sich Smith um
    und sah Allison an. Er hielt ihr das Telefon hin, und Sara ahnte, dass

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