Schattenblume
er sie anlächelte. Sie wünschte, das Mädchen
würde ihm nicht vertrauen, doch sie sah, wie Allison zu‐
rücklächelte. Einen Moment später kniff er ihr ins Bein.
Allison schrie auf, und Smith hielt sich das Telefon wieder ans Ohr.
Er lachte blechern. «Ja, Sie haben richtig gehört, Lady.
Die Kinder behalten wir.» Er drehte sich um und betrach‐
tete die restlichen Geiseln. «Und wir wollen ein paar Bier.»
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Sein Partner riss den Kopf herum. Sara hatte den Ein‐
druck, eben war Smith vom verabredeten Plan abgewi‐
chen. Soso, dachte sie. Vielleicht war Smith doch nicht der
Anführer.
Smith ließ den Ärger über die stille Rüge seines Part‐
ners an der Person am anderen Ende der Leitung aus.
«Eine Stunde, du Schlampe. Wenn ihr länger braucht, gibt
es hier noch viel mehr Tote.»
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KAPITEL ELF
Montag
m nächsten Morgen fuhr Sara zum Bestattungsinsti‐
tut.
A Jeffrey saß auf dem Beifahrersitz und wies ihr
den Weg. Normalerweise war sie vor einer Obduktion gern
allein, um sich mental auf ihre Aufgabe vorzubereiten,
doch für diesen Luxus hatte sie heute keine Zeit. Bevor sie
bei Nell aufgebrochen waren, hatte Sara noch ihre Mutter
angerufen und angekündigt, dass sie am Abend wieder in
Grant County wäre.
«Hier ist es», sagte Jeffrey und zeigte auf ein u‐förmiges Gebäude neben dem Highway. Bis auf einen kleinen Blu-menladen auf der anderen Straßenseite war es das einzige
Haus weit und breit. Sattelschlepper wirbelten heiße Luft
auf, als Sara ausstieg. In der Ferne hörte sie Donnergrollen, und genauso war ihre Stimmung.
Sie fuhr zusammen, als sie den Fuß auf den Asphalt
setzte und sich ein Stein durch die dünne Sohle ihrer Sandale bohrte.
Jeffrey fragte: «Alles klar?» Sie nickte und ging auf den Eingang zu.
Paul, der Deputy, der sie gestern Abend zu Nell ge‐
bracht hatte, stand vor der Tür und rauchte eine Zigarette.
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Er drückte die Kippe am Rand der Mülltonne aus und warf
sie in den mit Sand gefüllten Aschenbecher.
«Ma'am», sagte er und hielt Sara die Tür auf.
«Danke», sagte Sara. Sie bemerkte den argwöhnischen
Blick, mit dem er Jeffrey bedachte.
Jeffrey fragte: «Wo sind sie?»
Er antwortete, ohne Jeffrey anzusehen. «Hinten. Ein‐
fach den Gang runter.»
Der Hilfssheriff ging voran. Bei jedem Schritt hörte Sara seine Schlüssel rasseln und das Leder des Holsters quiet-schen. Mit den Spritzbetonwänden und den Neonröhren,
die alles in gelbes Licht tauchten, wirkte das Bestattungsinstitut fast wie ein ganz gewöhnliches Amt. Es roch nach Chemikalien und künstlichem Raumduft, der in einem
Wohnzimmer oder Büro vielleicht angenehm gewesen
wäre, doch hier wurde Sara nur schlecht davon.
«Hier lang.» Paul öffnete eine Tür am Ende des Korri‐
dors. Sara warf Jeffrey einen Blick zu, doch er sah mit reg‐
loser Miene an ihr vorbei in die Leichenhalle. Der Tote lag auf einem konkaven Tisch, rundherum standen Chemikalien und Kosmetika. Die Leiche war mit einem sauberen
weißen Laken zugedeckt, dessen Saum im Luftstrom der
brummenden Klimaanlage am Fenster flatterte. Es war so
kalt hier unten, dass man kaum Luft bekam.
«Hey», sagte Hoss und streckte Sara die Hand ent‐
gegen. Sie schüttelte sie kräftig, bis sie merkte, dass er sie eigentlich nur am Ellbogen fassen wollte, um sie in
den Raum zu führen. Sara erinnerte sich vage, dass Män‐
ner aus Hoss' Generation einer Frau normalerweise nicht
die Hand schüttelten, es sei denn aus Spaß. Ihr Großvater Earnshaw, den sie innig liebte, war genauso.
Hoss stellte sie den anwesenden Männern vor. «Das ist
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Deacon White, der Betreiber des Bestattungsinstituts.»
Der massige, mürrische Mann mit den Geheimratsecken
nickte Sara kurz zu. «Das ist Reggie Ray.» Hoss zeigte auf den zweiten Hilfssheriff, der gestern Nacht bei Robert gewesen war. Der junge Mann trug immer noch die Kamera
um den Hals, und Sara fragte sich, ob er den Apparat wohl
auch mit ins Bett nahm.
«Slick», sagte Hoss zu Jeffrey. «Ich glaube, ich habe
euch gestern gar nicht vorgestellt – Reggie ist Marty Rays Junge.»
«Was du nicht sagst», sagte Jeffrey kühl. Trotzdem
streckte er dem anderen die Hand hin. Reggie nahm sie wi‐
derwillig, und wieder fragte sich Sara, warum sich die Deputys Jeffrey gegenüber so zugeknöpft benahmen.
Hoss sagte: «Wir haben Roberts Aussage heute Mor‐
gen aufgenommen.» Jeffrey war sichtlich überrascht. «Die
Nachbarn bestätigen
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