Schattenblume
den
Standardrichtlinien zuerst über die Belüftung versuchen
würden. Vielleicht ist es nur eine Falle, um mehr Geiseln in die Hand zu bekommen.»
Lena zog einen Turnschuh aus und ließ das Messer hin‐
eingleiten. Dann zog sie ihn wieder an.
«Lena?», fragte Nick.
«Ich weiß, welche Gefahren uns drohen, Nick», gab sie
zurück. Er behandelte sie wie eine Zehnjährige, nicht wie einen erfahrenen Cop. Sie zog das Hemd über, es spannte
an der Brust. Auf dem Namensschild an der Brusttasche
stand MARTIN, und Lena fragte sich, ob der Name zu
einem dürren Mann oder einer flachbrüstigen Frau gehörte.
Als Lena aus der Kabine kam, trat Molly einen Schritt
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von Nick zurück, als fühlte sie sich ertappt. Lena betrachtete
sich im Spiegel. Sie fand, so wie die Knöpfe über ihrem Bu‐
sen spannten, sah sie aus wie eine Nutte oder ein Pornostar.
Doch wenn sie an einige der weiblichen Sanitäter dachte, die
sie aus Heartsdale kannte, passte sie genau ins Schema.
Zu Nick sagte sie: «Ich weiß, dass du Wagner nicht
traust.»
«Weißt du auch warum?», fragte er und fuhr fort, ohne
eine Antwort abzuwarten. «Ich weiß von den Gerüchten,
aber ich sag dir was: Ich war derjenige, der gezögert hat.
Sie hat nicht gezögert. Sie zögert nie. Sie ist eiskalt. Und ich sag dir noch eins.» Er warf Molly einen viel sagenden Blick zu. «Sie kann Frauen nicht ausstehen.»
Lena ließ die Luft zwischen den Zähnen entweichen.
«Glaub mir», sagte Nick. «Es macht ihr nichts aus,
Frauen als Lockvogel zu benutzen. Und genau das tut sie
hier, egal, was du vielleicht denkst. Das ist damals in Ludo‐
wici passiert. Sie hat eine Polizistin reingeschickt, und
die Geiselnehmer haben die Frau behalten. Zehn Minuten
später war sie tot.»
«Weil du gezögert hast?», fragte Lena angriffslustig.
Doch als sie das Schuldbewusstsein in seinen Augen sah,
bereute sie ihre Worte – nicht, weil sie es nicht genau so gemeint hatte, sondern weil die Situation schon schwierig
genug war, ohne dass Lena auch noch Molly Stoddard ge‐
gen sich aufbrachte.
Nick sagte: «Es wird nicht so einfach, wie du dir viel‐
leicht vorstellst. Du bist lange genug bei der Polizei, um zu
wissen, dass hier was nicht stimmt. Tief drinnen spürst du es auch. Du weißt es, Lena.»
«Ich warte draußen», sagte Lena nur. Sie hielt es für das Beste, die beiden allein zu lassen. Als sie aus dem Wasch-231
raum kam, rannte sie in einen von Wagners Kollegen, und
der Mann hielt sie mit seinen Gorillaarmen verdutzt fest, damit sie nicht umfiel. Doch er ließ seine Hand ein bisschen zu lang auf ihrem Körper. Lena stieß ihn fort und
versuchte, ihre Wut zu unterdrücken. Dann ging sie zu
Wagner, die mit dem Handy am Ohr am Ende des Flurs
stand. Die Frau beendete das Gespräch, als Lena bei ihr an‐
kam.
Wagner fragte: «Drückt der Schuh?»
«Er ist nur ein bisschen eng», sagte Lena. «Das Hemd
auch.»
«Lieber zu eng als zu weit», entgegnete Wagner. «Was
ist mit Ihrer Lippe passiert?»
Lena fasste sich an den Mund, bis sie merkte, wie verrä‐
terisch die Geste war. «Unfall», sagte sie, und es klang nicht einmal in ihren eigenen Ohren überzeugend.
Wagner schien sie zu durchschauen, aber sie sprach
Lena nicht darauf an. Stattdessen sagte sie: «Ich habe
meine Zweifel, was Sie angeht, Detective Adams, aber ich
lasse Sie reingehen, weil Sie Ortskenntnis haben und weil die Geiselnehmer bei Ihnen weniger misstrauisch sind.»
«Danke für das Vertrauen.»
«Sie brauchen mein Vertrauen nicht, Detective», gab
Wagner zurück. «Hören Sie mir gut zu: Sie bringen die
Lebensmittel rein und holen Maria Simmons da raus, und
zwar so schnell wie möglich.»
«In Ordnung.»
«Ich will nicht, dass Sie die Heldin markieren, und vor
allem will ich auf gar keinen Fall, dass Sie sich für eine andere Geisel eintauschen lassen.»
Lena wich Wagners Blick aus und sah zu Boden. Genau
das hatte sie vorgehabt.
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«Es mag auf den ersten Blick eine gute Idee sein, aber
Sie nutzen uns hier draußen viel mehr als drinnen. Sie haben Erfahrung darin, gefährliche Situationen einzuschät‐
zen. Ich brauche Ihre Expertenmeinung.»
Sie wirkte offen und ehrlich, also beschloss Lena, auch
ehrlich zu ihr zu sein. «Klingt, als wollen Sie mich ver‐
arschen.»
Wagner verzog die Lippen zu einem Lächeln und mus‐
terte Lena mit einem Blick, den sie schon oft bei Leuten gesehen hatte: Der Frau war soeben klar geworden, dass
sie
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