Schattenblume
Jeffrey und Hoss lehnten mit verschränkten Armen an der Wand. Reggie stand am Waschbecken, seine Kamera reflektiertedas Licht. Im Raum herrschte angespannte Stille. Trotzdem wurde Sara das Gefühl nicht los, dass es sich hier nur um eine Pro-forma-Veranstaltung handelte.
Sie fragte: «Wo sind die Röntgenbilder?»
White wechselte einen Blick mit Hoss, dann sagte er: «Wir röntgen üblicherweise nicht.»
Sara versuchte, sich die Überraschung nicht anmerken zu lassen. Sie wusste, sie machte sich keine Freunde, wenn sie hier reinplatzte und den Leuten auf die Nase band, dass sie sie für einen Haufen Dorftrottel hielt. Röntgenbilder gehörten zu den Standardvorschriften bei jeder Obduktion, und bei einer Kopfwunde waren sie besonders wichtig. Die Kugel zerschlug den Knochen, wenn sie in die Schädeldecke eintrat, und die Lage der Knochensplitter im Hirn lieferte aufschlussreiche Hinweise darauf, welchen Weg die Kugel genommen hatte. Schnitt man die Wunde auf, konnte es sein, dass man die Lage der Splitter veränderte und damit sogar falsche Spuren legte.
Sie fragte: «Haben Sie die Kugel gefunden?»
«Im Kopf?», fragte Reggie zurück. Er klang überrascht. «Ich hab zwei .22er aus der Wand gepult. In der Nähe von seinem Kopf habe ich nichts gefunden außer … Gehirn.»
«Die Kugel steckt vielleicht noch drin», erklärte Sara.
Hoss räusperte sich höflich, dann sagte er: «Vielleicht hat unser alter Reg die Kugel übersehen. Wir finden sie bestimmt, wenn wir nochmal gründlich danach suchen.»
Reggie wirkte empört, doch als Hoss zu ihm rübersah, hatte er sich schon wieder im Griff. Er zuckte die Achseln, als wollte er dem Sheriff sagen: «Kann sein.»
Sara legte sich ihre Worte sorgfältig zurecht. «Manch mal bremst das Hirngewebe die Geschwindigkeit der Kugelab, und die Kugel ist dann zu langsam, um wieder aus dem Schädel auszutreten.»
Hoss bemerkte: «Von seinem Kopf fehlt die gesamte rechte Hälfte.»
«Dazu kann es auch durch den Schädelbruch kommen.» Sara wusste, welche Munition Polizisten am liebsten benutzten, und mutmaßte: «Wir reden hier von einer Neun-Millimeter mit Hohlspitze, nehme ich an?»
Reggie blätterte in seinem Notizheft zurück und las vor: «In der Beretta war Kaliber .22, lang für Büchsen, in der Glock neun Millimeter mit Hohlspitze.»
Sara sagte: «Die hätte genug Kraft, einen Teil der Schädeldecke wegzureißen.» Sie verkniff sich die Bemerkung, dass ein Röntgenbild darüber leicht Aufschluss gegeben hätte.
Hoss sagte: «Na schön.»
Sara wartete ab, ob er noch etwas zu sagen hatte, doch als er schwieg, zog sie das Laken weg. Sie hätte sich denken können, dass sie die Leiche auf den Rücken legen würden, und jetzt versuchte sie, ihren Ärger darüber hinunterzuschlucken. Die Leichenflecken waren zum Hinterkopf gewandert, was bedeutete, dass in das weiche Gewebe der Kopfhaut Blut gesickert sein konnte. Solche Flecken waren nur schwer von Kontusionen zu unterscheiden, die vor dem Tod entstanden waren. Solange es keine Hautaufschürfungen gab, war es fast unmöglich, zwischen Leichenflecken und Prellungen zu unterscheiden.
Die Totenstarre hatte eingesetzt. Swans Haar klebte mit Blut in seinem Gesicht. Dennoch konnte Sara sehen, dass Mund und Augen leicht geöffnet waren. Auf der Seite, mit der er auf dem Teppich gelegen hatte, war ein bläulicher Schatten. Sein Brustkorb war schmal, die Rippen standenhervor. Der Hosenbund saß so locker, als hätte er erst kürzlich Gewicht verloren. Man hatte es versäumt, ihm Plastiktüten über die Hände zu stülpen, um mögliche Spuren wie Schießpulver oder Fasern, die er umklammert hielt, zu konservieren – und klammern war das richtige Wort: Swans rechte Hand war zur Faust geballt.
Reggie sagte: «Ich hab versucht, ihm die Hand zu öffnen, aber es ging nicht.»
«Schon gut», sagte Sara. Falls sie tatsächlich Reste von Schießpulver an Swans Hand fand, ließ sich nicht zurückverfolgen, ob sie von Reggie oder von dem Toten stammten. «Sind die Fotos vom Tatort schon fertig?»
Er schüttelte den Kopf. «Aber hier sind meine Zeichnungen», sagte er und zog einen zusammengefalteten Umschlag aus der Tasche. Darin waren drei Blätter mit groben Grundrissen des Tatorts. Er entschuldigte sich gleich: «Ich wollte nochmal drübergehen.»
«Schon gut», sagte Sara wieder und breitete die Zettel auf dem Tisch neben dem Waschbecken aus. Das Bett und der Schrank standen einander als zwei schiefe Rechtecke gegenüber.
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