Schattenblume
spät ist es?»
Sie sah auf die Uhr. «Halb zwei», sagte sie und strich ihm eine Strähne aus der Stirn. «Weißt du, wo wir sind?»
Er atmete tief ein, dann wieder aus. «Ich habe geträumt, wie ich mit meiner Frau zum allerersten Mal Liebe gemacht habe.»
Sie presste die Lippen zusammen. Sie wünschte sich so sehnlich, sie könnte die Zeit zurückdrehen, dass ihr die Tränen kamen.
Er fuhr fort. «Wir waren in meinem Elternhaus, auf dem Fußboden in meinem Kinderzimmer …»
«Schsch», machte sie. Sie wollte nicht, dass er zu viel redete.
Er verstand und schloss die Augen, als wollte er die Erinnerung noch nicht gehen lassen. Als er die Augen wieder öffnete, konnte Sara sehen, wie stark seine Schmerzen waren. Doch er klagte nicht. Stattdessen sagte er: «Das verdammte Telefon macht mich noch verrückt.»
«Ich weiß.» Fast wünschte sie, die Männer würden den Stecker rausziehen, wenn sie schon nicht drangingen. Sie wartete das nächste Klingeln ab, dann fragte sie: «Hast du große Schmerzen?»
Er schüttelte den Kopf, aber sie wusste, dass er log. Er war schweißgebadet, nicht nur von der Hitze. Die Wunde blutete nicht mehr, aber vielleicht hatte er innere Blutungen. Sein Arm fühlte sich eiskalt an, der Puls war unregelmäßig. Wahrscheinlich klemmte die Kugel zwischen der verletzten Arterie und einem Nerv. Wenn Jeffrey sich bewegte, hatte er unerträgliche Schmerzen. Außerdem barg jede Bewegung das Risiko, dass sich die Kugel verschob. Die Wunde war zu weit oben, als dass sie den Arm hätte abbinden können. Das Einzige, was ihn im Moment vor dem Verbluten bewahrte, war die Kugel selbst. Wenn nicht bald Hilfe kam, wusste Sara nicht, wie lange er noch durchhalten würde.
«Ich habe gerade daran gedacht», sagte sie, ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, «wie sehr du dich …» Sie blickte auf, doch Smith unterhielt sich mit seinem Komplizen. «Wie viel sich verändert hat», sagte sie dann. Er war so anders als der Mann, in den sie sich einst verliebt hatte, und doch war so vieles noch genauso wie damals. Die Zeit hatte ihn veredelt, ihn geschliffen wie einen Diamanten.
«Wo sind sie?», fragte er und versuchte sich aufzusetzen.
Als sie ihn sanft zurückdrückte, blieb er, wo er war.Selbst die Tatsache, dass er sich so kraftlos ergab, machte Sara Angst. «Sie sind vorne», sagte sie. «Sie haben Allison bei sich.»
«Ruth Lippmans Tochter?», fragte er und hob schwach den Kopf. Sie ließ ihn einen Blick auf das Mädchen werfen, bevor sie ihn wieder nach unten drückte. Allison saß mit baumelnden Beinen auf dem Anmeldungstresen. Auf dem Schienbein prangte eine rote Schnittwunde. Letzte Woche war sie mit dem Fahrrad gestürzt, als sie ein besonders waghalsiges Kunststück machen wollte. Sara hatte die Wunde mit zwei Stichen genäht und Allison für einen Lutscher das Versprechen abgenommen, dass sie beim nächsten Mal vorsichtiger wäre.
Smith ging jetzt nicht mehr auf und ab, sondern war bei Allison stehen geblieben, die Schrotflinte in der Armbeuge. Der zweite Schütze stand auf der anderen Seite des Mädchens, das Gewehr, mit dem er immer noch auf den Eingang zielte, lag auf dem Tresen. Smith sah aufmerksam herüber, und Sara wusste, dass er jedes Wort verstand.
«Dein Arm macht mir Sorgen», sagte sie zu Jeffrey.
«Es geht schon.» Wieder versuchte er, sich aufzurichten.
«Nicht», sagte sie. «Bitte. Du darfst dich nicht mehr bewegen, als unbedingt nötig.»
Jeffrey schien die Sorge in ihrer Stimme zu hören, denn er gab nach.
Er fragte: «Haben sie Forderungen gestellt?»
Sie schüttelte den Kopf und versuchte Smiths Blick auszuweichen. Sara hatte ihr halbes Leben in der Pädiatrie verbracht. Auch wenn Smith kein Kind mehr war, er kam ihr vor, als wäre er noch lange nicht erwachsen. Sie wusste, wie aggressiv heranwachsende Männer werden konnten, wenn man sie reizte, vor allem wenn sie Publikum hatten.Sara wollte nicht erschossen werden, nur weil Smith seinem Freund etwas beweisen musste.
Jeffrey versuchte, sich bequemer hinzulegen, und sie betete, er würde seinem Arm nicht noch schlimmeren Schaden zufügen. Leise fragte er: «Der eine scheint dich zu kennen. Hast du ihn wieder erkannt?»
Wieder schüttelte sie den Kopf. Sie wünschte, sie könnte ihm sagen, dass sie wusste, wer die Schützen waren und was sie hier wollten. Im Geist war sie die letzten fünfzehn Jahre von Grant County bis Atlanta durchgegangen. Sie hätte sich bestimmt an Smith erinnert, wenn er
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