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Schattenbruch

Schattenbruch

Titel: Schattenbruch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markolf Hoffmann
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hoch über Praa stand. Lyndolin Sintiguren war über siebzig Jahre alt, eine kleine Frau, das Gesicht eingefallen und von Falten gezeichnet. Ihr Haar - graue Locken, zwischen denen die Kopfhaut hindurchschimmerte - wirkte so brüchig, als könnte es jeden Augenblick im glühenden Wind Feuer fangen. Die Hitze war mörderisch; zwar kühlte der Fluß Nesfer die am Ufer gelegenen Straßen, doch oberhalb der Stadt, auf dem Gipfel des Yanur-Se-Gebirges, flimmerte die Luft. Sie waren in den Morgenstunden emporgestiegen. Es war Lyndolins Wunsch gewesen, die Schlacht um Praa von diesem erhöhten Punkt aus zu beobachten. Wie eine Wand riegelte das Gebirge den Nesfer von der südlichen Wüste ab; auf seinem Gipfel lag Talanur, die Stirn der Zornigen: eine Festung aus dunklem Gestein, errichtet von einem König, der die aufsässigen Wüstenstämme hatte einschüchtern wollen. Von der Burg aus konnte man die Wüste beobachten, und auch Praa ließ sich gut überblicken. Dennoch war Tala nur vor Jahrhunderten aufgegeben worden; längst war Arphat unter der Knute des Sonnenthrons vereint, die Wüstenstämme stellten keine Gefahr mehr dar. Der neue Feind des Königreichs drang aus dem Westen; ihn konnte keine Festung einschüchtern.
    Lyndolins Augen - sie waren trotz des Alters klar und wach - ruhten auf Praa. Der Nesfer teilte die Stadt als ein funkelndes Band, und die goldenen Dächer der Prunkbauten schimmerten in der Sonne. Die Stadt aus Gold und Eisen … Seit Lyndolin hierhergekommen war - als Mitglied einer Gesandtschaft des Fürsten Baniter Geneder - , bewunderte sie die Schönheit der arphatischen Hauptstadt. Das riesige Aru'Amaneth, die Stufenpyramide der Königin, über der stets feiner Dunst hing; die kubusförmigen Aru'Kahnar aus Sithalitgestein, in denen Intharas Vorfahren beigesetzt waren; die Inseln inmitten des Nesfers, auf denen üppige Felder gediehen - all dies zeugte von Arphats Größe, Arphats Reichtum, Arphats Stolz. Viele Städte hatte Lyndolin Sintiguren in ihrem Leben gesehen; sie, die berühmte Sängerin und Sterndeuterin aus Sithar, war an vielen Orten zu Gast gewesen. Ihre letzte Reise hatte sie nach Praa geführt, und da sie immer gebrechlicher wurde, wollte sie in dieser Stadt ihren Lebensabend beschließen.
    Die Priester hatten sie in einer Sänfte zur Festung emporgetragen. Talanur war verfallen; das Fundament bröckelte, einige Außenmauern waren eingestürzt. Vor der Burg erstreckte sich eine Felsenebene; von ihr aus wollte Lyndolin den Angriff der Goldei beobachten. Seit Tagen wußten die Bewohner von Praa, daß die Echsen kommen würden. An der Grenze zu Kathyga hatten sie die Heereslinie durchbrochen; die hastige Aufstellung neuer Truppen hatte den Vorstoß nicht aufhalten können. Dann waren sie am Nordufer des Nesfers entlang nach Osten marschiert; langsam, ohne Hast hatten sie die Flußstädte besetzt: Yptir, Salaun, Harmanth und all die anderen Siedlungen am Nesfer. Die Gegenangriffe der Mönchsorden waren allesamt gescheitert; zu stark waren die Echsen und zu entschlossen, Arphat zu erobern. Die Kunde von ihren magischen Kräften eilte ihnen voraus; angeblich begleitete sie ein Geisterheer aus silbernen Klauen, die aus dem Nichts angriffen und ohne Rücksicht ihre Feinde niedermetzelten. Nun standen die Goldei dicht vor Praa. Das Heer der Arphater und Sitharer war auf die Verteidigung vorbereitet; nach Westen hin war die Stadt abgeriegelt. Wälle waren errichtet und der Nesfer mit Flößen abgeschottet worden. Zwischen den Ahru'Kanar hatten sich die vereinigten Heere versammelt; die Schwerter der Sitharer glänzten weiß im Sonnenlicht, die Säbel der Arphater grün - so konnte Lyndolin sie aus der Ferne gut unterscheiden.
    Ihre Hand ruhte auf der Harfe. »Viele sind im letzten Kalender gefallen. Arphat verlor an der Grenze die Hälfte seiner Krieger, und Sithar büßte dreitausend Mann bei der Rückeroberung von Thesma ein. Die Verwundeten starben auf der Flucht durch die Wüste … Tod und Verderben, wohin ich auch blicke.« Sie sah sich nach der verlassenen Festung um. »Die Augen von Talanur … als ich mit Fürst Baniter über dieses Gebirge zog, erzählte ich ihm von einem Traum. Ich sah in den Trümmern von Talanur einen König, dunkel sein Gesicht und seine Augen voller Grausamkeit, der an den eigenen Thron gekettet war; in den Händen hielt er einen Reif aus Silber und einen schwarzen Schlüssel. Mein Lied erweckte ihn und seine toten Krieger zum Leben.« Sie wandte sich wieder der

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