Schattenbrut (German Edition)
nur gerne mit Ihnen sprechen.«
»Gibt es ein Problem mit meinen Eltern?«
»Ich habe noch keinen Kontakt aufgenommen.« Sie räusperte sich wieder. »Können wir uns treffen?«
»Klar. Von mir aus gleich.«
Billys Herz machte einen Sprung. Einen Moment war sie versucht, zuzustimmen. »Ginge es auch gegen siebzehn Uhr?«, fragte sie dann.
»Das geht. Kennen sie das Shamrock? Die ehemalige Blume?«
»Natürlich.« Die Blume war das Stammlokal ihres Abiturjahrganges und das vieler andere Jahrgänge vor ihr gewesen, bis es vor einigen Jahren den Namen, den Besitzer und somit die Klientel gewechselt hatte.
»Ich bin um siebzehn Uhr da.«
War es möglich, dass es so einfach war? Billy bedankte sich und beendete das Telefonat.
Um siebzehn Uhr. Nur noch wenige Stunden. Sie wollte sich umziehen, wollte darüber nachdenken, wie sie das Gespräch beginnen sollte, doch sie schlurfte wie in Trance zurück in die Küche, ließ sich auf einen Stuhl fallen und starrte aus ihrem gardinenlosen Küchenfenster. Eine Frau mit Kopftuch putze hingebungsvoll das Fenster auf der anderen Straßenseite. Sie rieb ihre feuchten Handflächen an den Jeans ab. Die Freude, ihn zu sehen, vermischte sich erneut mit der Angst, dass alles ein Irrtum war. Sie durfte einfach nicht darüber nachdenken. Energisch stand sie auf und ging in ihr Schlafzimmer. Sie öffnete die verglaste Tür vom Kleiderschrank und ließ ihren Blick über ihre Garderobe schweifen. Was sollte sie anziehen? Wie zog sich eine Mutter an? Sie dachte an ihre eigene Mutter, diese unauffällige und doch so starke Frau, und knallte die Schranktür so heftig zu, dass ihr Spiegelbild wankte. Es war egal, was sie trug. Nichts konnte etwas an der Tatsache ändern, dass sie ihr Kind hergegeben hatte, und nichts konnte sie jetzt beruhigen außer der Erkenntnis, dass es Loic gutging. Oren.
Zuerst hatte sie das Baby in ihrem Bauch Eve genannt, mit dem angeblich untrügerischen Instinkt werdender Mütter, dass es sich dabei um ein Mädchen handelte. Hatte nächtelang geweint, nachdem ihr klar wurde, dass sie Eve nicht würde behalten können. Hatte unzählige Briefe an Eve geschrieben in der Hoffnung, ihr diese irgendwann zu geben. Und kurz vor der Geburt war aus Eve plötzlich ein Loic geworden. Der kleine Loic, der nie an ihrer Brust gelegen hatte. Die Hebamme hatte ihn in den Arm genommen, Billy einen teilnahmsvollen Blick zugeworfen und Loics Kopf hinter einem weißen Tuch versteckt. Wahrscheinlich hatte sie gedacht, dass es Billys Herz brechen würde, sollte sie ihrem Kind nur einmal in die Augen sehen. Doch der kurze Blick auf das zerknitterte Gesicht mit dem leuchtenden Storchenbiss auf dem Nasenflügel hatte gereicht.
Die Briefe an Loic nahmen mittlerweile drei dicke Aktenordner ein, sorgfältig sortiert nach Datum und unverhältnismäßig zahlreicher als die Schreiben an Eve. Eine Sekunde lang überlegte sie, die Ordner mitzunehmen, entschied sich aber dagegen. Es gab keine Eile. Mit dem Handrücken wischte sie sich die Augen und blieb unschlüssig im Raum stehen. Zum ersten Mal, seit sie Stuttgart verlassen hatte, fühlte sie sich einsam.
5.
Jedes Kind hat einen Helden, ein Vorbild, das ihm seinen zukünftigen Weg weist, ihm zeigt, wohin sein Herz gehen möchte. Zu Mut und Freiheit wie Winnetou, zu Glanz und Glamour wie ein Popstar oder zu Macht und Mut wie Billy. Wer keine Helden mehr hat, der hat seinen Weg aus den Augen verloren.
Von klein an lebte ich in einer Welt aus Angst und Schwäche und ich begriff früh, dass dies, was mich umgibt, nur ein Spiegel der Allgemeinheit ist.
Die Faulen, Kranken und Dummen haben sich vermehrt wie die Kanalratten in der unterirdischen Welt dreckiger Städte, leben ungeschoren als Parasiten einer Gesellschaft, die bereits vom Gesindel durchdrungen wurde wie das Brot vom berühmten Sauerteig. Die Nächstenliebe verbietet es den Fähigen, ihre Konsequenzen zu ziehen und endlich wieder nach Stärke zu streben, doch die Angst vor dem Dreck bringt sie zumindest dazu, sich abzuschotten vor dem Gesindel, das sie selbst nähren. In den Städten geben die Menschen ein Vermögen für eine gute Wohnlage aus, nicht etwa, weil der nahe gelegene Waldsee sie schert, sondern damit die eigenen Kinder nicht auf dem Pausenhof mit dem Abschaum spielen müssen. Und sie tun Recht daran, denn Schwäche ist ansteckend, zumindest, wenn man ihr mit Nächstenliebe begegnet.
Ich bin stolz darauf, dass ich mir meine Heldin immer bewahrt habe. Diejenige, die
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