Schattenbrut (German Edition)
kennenlernte, vorgehabt, es ihm irgendwann zu sagen. Doch der richtige Zeitpunkt war nie gekommen.
Ursula stand auf, holte ein Glas aus dem Schrank und ließ wie Billy zuvor Leitungswasser hineinlaufen. Dann stellte sie das Glas neben sich und stützte sich mit beiden Händen auf die Platte.
»Ich habe es damals Clarissa erzählt«, murmelte sie.
»Was hast du Clarissa erzählt?«, fragte Billy alarmiert.
»Das mit deinem Kind.« Sie hatte Billy den Rücken zugedreht.
»Das ist nicht dein Ernst.«
Langsam drehte sich Ursula um. Ihre Augen schienen in den letzten Sekunden tief in die Höhlen gesunken zu sein. »Clarissa hat damals immer wieder angerufen, und du wolltest sie nicht sprechen. Clarissa hat nicht verstanden, warum, sie war verletzt und hat mich gefragt, ob sie etwas falsch gemacht hätte. Also habe ich es ihr erzählt. Und sie hat versprochen, mit niemandem darüber zu sprechen.«
Billys Oberkörper sackte in sich zusammen. Es ergab Sinn. Das alles ergab langsam einen schrecklichen Sinn.
»Es tut mir so leid.«
Billy sah ihre Mutter an. »Es ist okay. Ich hätte es ihr damals selbst sagen sollen.«
Ursula senkte den Kopf. »Es war mein Fehler. Und es ist meine Schuld, dass Oren jetzt tot ist. Vielleicht ist es sogar meine Schuld, dass Clarissa tot ist.«
Billy schlug mit der Faust auf den Tisch. »Rede nicht so eine Scheiße! Wer immer das getan hat, der ist schuld. Und ich werde diese Person zur Rechenschaft ziehen, das schwöre ich!«
»Lass das, Sibylle«, mahnte Ursula und schüttelte ihren Kopf. »Und was ist jetzt mit Tamy?«
»Sie war schockiert, nachdem sie von Orens Tod erfahren hat. Sie wird Zeit für sich brauchen. Aber sie kommt zurück, da bin ich sicher.«
»Es ist nicht gut, dass sie alleine ist.«
»Hast du Angst?«, fragte Billy, obwohl sie die Antwort kannte.
»Ich habe immer noch die Hoffnung, dass alles eine Verkettung seltsamer Zufälle ist. Und ich vertraue der Polizei.«
»Die Polizei hat keine Ahnung, was hier los ist«, schnaufte Billy verächtlich. »Sie glauben, dass ich hinter der Sache stecke.«
Ursula sah sie erschrocken an.
»Wenn schon«, winkte Billy ab. »Sie werden sehen, dass sie gegen eine Mauer rennen.« Sie stand auf, ging ins Wohnzimmer und kam kurz darauf mit einem Blatt Papier und einem Stift zurück. Dann setzte sie sich und schrieb in die Mitte des Blattes >Clarissa<. Mit einer schwungvollen Bewegung umkreiste sie den Namen.
»Wir müssen herausfinden, was Clarissa vor ihrem Tod gemacht hat, mit wem sie sich getroffen hat.« Sie schrieb >Unbekannte Frau< auf das Blatt und verband die beiden Namen mit einem Pfeil.
»Was weißt du über diese Person?«, fragte Ursula.
»Clarissa erzählte ihrem Mann nur, dass es eine Frau aus Clarissas Vergangenheit ist, der sie etwas schuldet.«
»Und wie kommst du darauf, dass es mit dem Mord zu tun hat?«
»Clarissa hat ihren Mann gleich nach dem Abitur kennengelernt, es muss also jemand sein, die vor ihm eine Rolle gespielt hat. Während der Schulzeit.«
»Zwischen deiner Zeit mit Clarissa und ihrem Abitur liegen aber immer noch zwei Jahre.«
Billy wusste, dass Ursula nach Gründen suchte, um die Sache von sich wegzuschieben.
»Zur selben Zeit, als sich Clarissa mit dieser Frau traf, ließ sie das Bild entwickeln, diesen Film, der zuvor fast zwanzig Jahre lang in einer Schublade lag.«
»Bist du sicher?«
»Ich weiß nur, was mir ihr Mann und die Polizei erzählt hat.« Sie trommelte mit dem Stift auf den Tisch. »Paula würde optimal in das Bild passen. Clarissa hatte damals ein mieses Gefühl bei der Sache und ich kann mir vorstellen, dass sie sich schuldig gefühlt hat, obwohl sie selbst nicht mitgemacht hat. Außerdem passt der Rest auch zu Paula. Sie kannte Oren, sie hätte den Text schreiben können und sie hatte einen Grund, mich zu hassen.« Sie schrieb >Oren< auf das Blatt und zog eine dicke Verbindungslinie zu der unbekannten Frau. »Aber ich bin mittlerweile sicher, dass es nicht Paula ist. Dass Paula ebenso wie Clarissa nur dazu benutzt wurde, um Informationen über mich zu bekommen. Es muss also jemand anderer sein. Und wer immer sich mit Clarissa getroffen hat, könnte durch sie von meiner Adoption erfahren haben.«
»Aber warum hätte sie davon erzählen sollen?«
Billys Scheitel kribbelte. Ein untrügliches Anzeichen dafür, dass ihre Gedanken einen Sinn ergaben. »Es muss jemand sein, der unter Franks Selbstmord gelitten hat. Diese Frau konnte nie begreifen, dass Frank sich
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