Schattenbrut (German Edition)
Adjektive.«
»Hmmm«, brummte Billy gedankenverloren. Sie überlegte, wie sie das Haus verlassen konnte, ohne eine erneute Diskussion mit Ursula zu beginnen. »Ich gehe in den Keller«, sagte sie.
In dem fensterlosen Raum, in dem Ursula ihre Wäsche machte, hing noch immer Billys Boxsack. Billy hatte nach Loics Geburt nach einem Ersatz für ihre Gesangsstunden gesucht und Boxunterricht genommen, und der Sack war ein Relikt aus dieser Zeit. Fast andächtig griff Billy nach den Boxhandschuhen, pustete den Staub weg und streifte sie über ihre Hände. Sie stellte die Füße auseinander und zog die Schultern ein, bevor sie zuschlug. Es fühlte sich fantastisch an. Sie holte erneut aus, diesmal heftiger, und begann, den Sack mit beiden Fäusten in einem gleichmäßigem Rhythmus zu bearbeiten. Die Kraft, die in ihre Hände floss, war enorm, und obwohl ihre untrainierten Oberarme fast augenblicklich zu schmerzen begannen, schien jeder Schlag eine gewaltige Explosion in ihr auszulösen.
Wer immer ihr schaden wollte, sie war bereit, zurückzuschlagen. Links unten, rechts unten, wie ein Maschinengewehr. Sie suchte nach einem Gesicht, suchte nach einem Schuldigen. Dieses Etwas, das aus ihr herauswollte, irgendeine vage Idee. Sie schlug dagegen. Links rechts links rechts.
Was hatte Ursula gesagt? Viele Adjektive. Sie hielt in der Bewegung inne und hörte das Rauschen der Heizung. Die Worte aus dem Text fielen ihr ein. Aus jenem Text, der neben Clarissa gelegen hatte. Eine majestätische Welle, voller unbändiger Kraft.
War es das?
Tamy?
Niemals. Sie schlug mit aller Kraft zu. Wen hatte Clarissa getroffen? Hatte Clarissa ein schlechtes Gewissen, weil sie Tamy nicht vom Mitmachen abgehalten hatte? Rechts links rechts links. Schweiß lief in ihre Augen, sie blinzelte und schlug weiter.
Wem hatte Clarissa von Billys Baby erzählt? Rechts links rechts links.
Eine unbändige Welle von majestätischer Kraft. Kompletter Müll, Schund. Links rechts links rechts.
Tamy ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Tamy Tamy Tamy. Rechts links rechts links. Viele Adjektive. Blödsinn. Tamy hasste Billy nicht. Sie bewunderte sie. Noch heute tat sie das. Rechts links.
Jemand, der nichts mit Frank zu tun hatte, meinte Ursula. Links rechts. Jetzt von der Seite. Linke Faust recht Faust.
Jeder könnte es sein. Wer war mit Frank befreundet gewesen? Links rechts.
Sie musste fragen. Alle fragen. Solange fragen, bis sie die Antwort hatte. Sie schlug gegen den Sack, bis die Schmerzen in ihren Armen unerträglich waren. Erschöpft ließ sie die Fäuste sinken.
Sie musste Fragen stellen.
32.
Der Radiosender begann mit den Vierzehn-Uhr-Nachrichten, als sie den Ortseingang von Bad Bergzabern passierte.
Sie hatte Ursula überredet, Tamy einen Zettel an die Tür zu hängen und zu Erwin, dem Nachbarn, zu gehen. Ursula hatte nicht protestiert.
Während der Fahrt hatten sich die Wolken verzogen, und die Sonne hatte die nassen Straßen fast getrocknet.
Vor dem angrenzenden Haus stutzte ein älterer Mann mit einer ratternden Heckenschere seine Büsche. Er trug eine Latzhose, die aussah, als würde sie um den Bauch herum jede Sekunde platzen. Ungeniert starrte er Billy an. Das Laub vor dem Haus von Almut Himmel war zu einer breiigen Masse geworden, und sie trat vorsichtig auf, um nicht auszurutschen. Durch das Fenster neben der Eingangstür sah sie die zuckenden Lichter eines Fernsehers.
Billy hielt den Klingelknopf lange gedrückt, doch im Inneren des Hauses regte sich nichts. Sie klingelte noch einmal. Dann ging sie die Treppe hinunter und schlüpfte hinter einen mannshohen Lorbeerbusch, der unter dem Fenster stand. Dahinter war genug Platz, um stehen zu können, doch sie war zu klein, um durch das Glas zu sehen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und klopfte vorsichtig gegen das Glas. Sie klopfte zweimal, dreimal. Keine Reaktion. Sie lief zurück zur Haustür und klingelte erneut.
»Känna dahääm?« Hinter ihr stand der Mann mit der Latzhose.
»Wie bitte?«, fragte Billy.
»Ist keiner dahäm?«, versuchte er, Hochdeutsch zu sprechen.
»Doch, aber Frau Himmel hört scheinbar nichts.«
»Die heert nie. Versuchen sie es bee da Marianne, die het a Schlüssel.« Sein Blick wanderte unverhohlen über ihren Körper.
»Marianne?«
Er zeigte auf das Nachbarhaus. »Die Marianne Heilmann.«
Die Nachbarin, der sie bei ihrem ersten Besuch begegnet war. Stumm ging sie die Stufen hinunter und nickte ihm beim Vorbeigehen kurz zu. Der Eingangsbereich
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