Schattenelf - 1 - Der dunkle Sohn
Ausbilderin, oder sogar der großen Herrscherin von Caer’alfar selbst ganz offen ins Gesicht sehen und sie anschreien wollen, sie solle ihn einfach in Frieden lassen. Mehrmals schon, vor allem während des letzten Jahres, war diese Vorstellung nahezu übermächtig gewesen, und allein Aydrians Erinnerung daran, dass er wirklich nicht viel Zeit hatte – vielleicht gerade mal ein paar Jahrzehnte –, verbunden mit dem Wissen, dass er von den Touel’alfar noch viel lernen musste, hatten ihn bewogen, seine Zunge im Zaum zu halten.
Und trotzdem widerstrebte es dem Knaben, der sich längst für einen jungen Mann hielt, sich immer an die Regeln seiner »Ausbilder« zu halten. Auch in dieser mondhellen Nacht – man hatte ihm ausdrücklich eingeschärft, er solle sich von Brynns Prüfung fern halten, hatte ihm erklärt, dieses Ereignis sei allein für ihre Augen und die der Touel’alfar bestimmt.
Und jetzt war er trotzdem hier und lag im Gras eines steilen Hanges oberhalb des Feldes. Er hatte sich schon des Öfteren dazu beglückwünscht, dass er die Lektionen der Elfen in puncto Heimlichkeiten gut gelernt hatte.
Kurz darauf richteten sich seine Gedanken nach außen, als Juraviel und To’el sich von dem gesattelten und aufgezäumten Pferd entfernten und Brynn Dharielle, der einzige andere Mensch, den Aydrian je zu Gesicht bekommen hatte, ebenfalls eine Hüterin in der Ausbildung und ein paar Jahre älter als er, sich in den Sattel hinaufschwang. Sie setzte sich in ihrem Sattel zurecht – etwas hektischer als sonst, ein untrügliches Zeichen ihrer Nervosität, wie Aydrian wusste – und warf ihr langes, schwarzes Haar aus dem Gesicht. Sie glich Aydrian nicht im Mindesten, was ihn ein wenig überraschte, weil die meisten Touel’alfar sich in seinen Augen sehr stark ähnelten und er angenommen hatte, dies sei bei den Menschen nicht anders. Er hatte helle Haut, blondes Haar und leuchtend blaue Augen, Brynn dagegen, von togaischer Abstammung, hatte eine Haut von der bräunlich-goldenen Farbe des Quiola-Hartholzes, Haar in der Farbe eines Rabenflügels und Augen, die so dunkel und glänzend waren wie Aydrians strahlend hell und kristallklar. Selbst ihre Augenform war anders und erinnerte eher an die einer Träne.
Auch körperlich hatten die beiden nicht viel gemein, obwohl das jahrelange, ausgezeichnete Training sowohl Brynns als auch Aydrians Muskeln perfekt gestählt hatte. Davon abgesehen aber war sie schlank und geschmeidig und eigentlich von eher schmächtiger Statur, während sich an Aydrians Armen bereits kräftige Muskeln abzuzeichnen begannen. Die männlichen und weiblichen Elfen unterschieden sich nicht so sehr; sie waren alle schlank, geradezu hager, und obschon die weiblichen Elfen Brüste besaßen, hatten diese kaum etwas mit den vollen Rundungen gemein, die mittlerweile Brynns Brust zierten.
Ihr Anblick hatte eine Wirkung auf Aydrians Psyche und Körper, die er nicht verstand. Während seiner ersten Zeit in Andur’Blough Inninness hatte er nicht viel Kontakt zu ihr gehabt, in den letzten Jahren aber war sie wegen Juraviel zu einer seiner engsten Gefährtinnen geworden. In letzter Zeit jedoch ertappte er sich oft bei der Frage, warum er in ihrer Nähe jedes Mal schweißnasse Hände bekam oder warum er das Bedürfnis hatte, tief durchzuatmen, wenn er nahe genug war, um ihren süßen Duft zu schnuppern …
Diese verwirrenden Gedanken waren schnell verflogen, als Brynn Diredusks Zügel nach hinten riss und das heftig wiehernde Pferd zwang, sich aufzubäumen. Anschließend ließ die junge Hüterin ihr Ross schlagartig wenden und galoppierte zum fernen Ende des Feldes hinunter. Dort trat eine weitere Elfe aus den Bäumen und reichte Brynn einen Bogen mitsamt einem Köcher voller Pfeile. Erst jetzt fiel Aydrian auf, dass man sechs Zielscheiben – mannshoch und ihrer Farbe und Form nach in fließende weiße Gewänder gehüllt – am gegenüberliegenden Feldrand aufgestellt hatte.
Der junge Mann biss sich angespannt auf die Unterlippe. Er hatte Brynn bereits mehrmals reiten sehen; sie bot fürwahr einen sehenswerten Anblick, wenn sie, Ross und Reiter ein einziges Ziel vor Augen, mit ihrem Pferd zu verschmelzen schien. Er hatte sie nie mit dem Bogen üben sehen, aber nach dem, was er gehört hatte – beziehungsweise mitgehört, denn er hatte etliche Unterhaltungen Dassleronds mit Juraviel über die junge Frau belauscht –, war die junge Hüterin geradezu sensationell.
In diesem Augenblick schien es Aydrian,
Weitere Kostenlose Bücher