Schattenelf - 1 - Der dunkle Sohn
anderes, etwas, das die Herrscherin von Caer’alfar als seltsam beunruhigend empfand. Sie hatte in ihrem Leben die Fortschritte von einem Dutzend Hüter verfolgt, und normalerweise kam es im Laufe der Ausbildung zu einer ganzen Reihe von entscheidenden Durchbrüchen, die diese Personen auch klar erkannten. Oft nahmen sie diese Durchbrüche mit einem erfreuten Lächeln oder einem wild entschlossenen Nicken zur Kenntnis, stets aber waren sie ungemein zufrieden, denn es war nicht einfach, die Prüfungen der Touel’alfar zu bestehen. Und so verhielt es sich jetzt auch bei Aydrian, dessen Miene eher in letztere denn in die erste Kategorie fiel, denn seinem Gesicht war keinerlei Freude anzusehen. Nichts als pure Zufriedenheit und vielleicht noch etwas, das, wie Lady Dasslerond erkannte, ein wenig an den Gesichtsausdruck eines herzlosen Eroberers erinnerte, ein Höchstmaß an Arroganz, die scheinbar mehr Freude an der Niederlage des Gegners fand als an der Erreichung irgendeines anderen Ziels. Lady Dasslerond war sich natürlich darüber im Klaren, dass sie von diesem Jungen nichts Geringeres erwarten durfte – die Elfen hatten ihn von Geburt an in dieser Art von Kraft ausgebildet. Trotzdem, die schiere Anspannung in Aydrians Gesicht, die nötig war, damit dieser Mensch dem Stein seine Kraft auf so feindselige Weise entreißen konnte, verursachte Dasslerond ein unbehagliches Gefühl.
Dieser junge Mann verfügte über eine innere Kraft, die alle ihre Erwartungen überstieg. In Anbetracht der gewaltigen Aufgabe, die sie ihm zugedacht hatte, wusste Dasslerond natürlich, dass dies eigentlich nur von Nutzen sein konnte. Trotzdem …
Sie wollte schon ein weiteres Mal zu ihrer Litanei über die Ausbildung an den Steinen ansetzen, zu ihrer Ansprache über die Arbeit im Einklang mit den Kräften des Steins statt gegen sie, die sie Aydrian bereits mehrfach gehalten hatte, aber im Augenblick war sie dessen einfach nur überdrüssig. Zumal die Darbietung, deren Zeugin sie soeben geworden war, sie doch ein wenig aus der Fassung gebracht hatte.
»Du wirst wieder mit den Steinen arbeiten, und zwar schon bald«, sagte sie schließlich und hielt Aydrian die Hand hin, damit er ihr den Graphit zurückgab.
Die Augen des jungen Mannes blitzten einen Moment lang wütend auf, wie Dasslerond erkannte, was deutlich machte, dass er den Stein eigentlich gern behalten hätte. Die Arbeit mit dem Stein hatte in dem Jungen eindeutig etwas wachgerufen, eine verborgene Regung, das Aufflackern einer Kraft vielleicht, die alles übertraf, was er je für möglich gehalten hatte. Und nach dieser Kraft verlangte es ihn, das stand für sie jenseits allen Zweifels fest. Er wollte sie anwenden, sie meistern und beherrschen. Und das war auch gut so, denn er brauchte diesen Ansporn, er musste die höchste Ebene der Kraft erreichen, wenn das, was sie mit ihm vorhatte, in Erfüllung gehen sollte. Doch wie schon die schiere Willenskraft, die er soeben bewiesen hatte, um dem Stein seine Magie zu entreißen, schien auch dieser übersteigerte, sich deutlich in diesen verblüffenden, eindrucksvollen Augen widerspiegelnde Ehrgeiz Lady Dasslerond vor etwas Unheilvollem zu warnen.
Der Augenblick war rasch vorüber, und Aydrian kam artig herbei und legte ihr den Graphit achselzuckend und mit einem verlegenen Lächeln in die Hand.
Dasslerond erkannte das Lächeln als das, was es tatsächlich war: ein Täuschungsmanöver. Hätte Aydrians Lächeln seine echten Gefühle widergespiegelt, hätte er dabei wenigstens die Zähne blecken müssen.
Unten auf dem Feld stand Brynn Dharielle und zäumte Diredusk auf, den eher kleinen aber kräftigen Hengst, den Belli’mar Juraviel einige Jahre zuvor für ihre Ausbildung nach Andur’Blough Inninness gebracht hatte. Auch sämtliche Touel’alfar waren an diesem Abend dort; die meisten von ihnen hatten sich unter den Zweigen der das lange, schmale Feld säumenden Bäume niedergelassen, viele von ihnen mit Fackeln in der Hand. Juraviel, den die anderen Elfen mittlerweile in neckischer Anspielung auf seinen offenkundigen Wandertrieb Marra-thiel Touk oder Schneegans nannten, sowie eine andere Elfe, To’el Dallia, standen bei Brynn auf dem Feld, plauderten mit ihr und gaben ihr, wie Aydrian vermutete, letzte Instruktionen.
Genau das war es, was die Elfen unentwegt taten, überlegte der junge Mann schmunzelnd. Sie sparten nie mit Anweisungen oder Kritik. Wie oft hatte Aydrian To’el Dallia, nach Lady Dasslerond seine zweite
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