Schattenelf - 1 - Der dunkle Sohn
dieses weißen Pulvers umgeben. Er hatte nichts zu essen und besaß keinerlei verwertbare Kenntnisse der unmittelbaren Umgebung, doch selbst das konnte Aydrian, gut ausgebildet und in völligem Einklang mit der Natur, nicht weiter ängstigen. Mehrere Wochen lang blieb er in der Gegend, suchte nach Anhaltspunkten für den Wertiger und die Katastrophe, die den Untergang des Dorfes eingeläutet hatte. Als er keine fand, richtete er den Blick wieder gen Osten.
Wohl wissend, dass ein gewaltiges Unwetter über ihn hereinbrechen könnte, machte sich der junge Hüter abermals auf den Weg. Er hatte vor, auf einem Umweg nach Festertool zurückzukehren.
Eine Woche später erreichte er eine winzige Ortschaft, die, ganz ähnlich wie Micklins Dorf, aus nicht mehr als einer kleinen Ansammlung von Hütten bestand. Die drei Männer und eine Frau im Schankraum begrüßten ihn herzlich, obwohl sie noch nie von Festertool gehört hatten, geschweige denn von einem Hüter namens Nachtfalke.
»Und was führt den Hüter von Festertool mitten im kältesten Winter in diese gottverlassene Gegend?«, wollte die Frau von ihm wissen.
»Micklins Dorf«, antwortete Aydrian, und als sich daraufhin die Mienen aller Anwesenden verfinsterten, schöpfte der junge Hüter neue Hoffnung. Er erzählte ihnen von seiner Entdeckung und von Mickaels Geschichte, die ihn überhaupt erst hier in diese Gegend geführt hatte.
»Tja, also diesen Mickael kenne ich«, antwortete einer der Männer. »Mit dem gerate ich jedes Mal auf dem Markt aneinander.« Dann wurde seine Stimme leiser und bekam einen bitteren Beiklang. »Früher jedenfalls.«
»Was für ein schlimmes Los für diese Leute«, fügte die Frau hinzu. »Von dieser Bestie in Stücke gerissen zu werden!« Bei ihren letzten Worten überkam sie ein leichtes Frösteln.
»Wisst ihr vielleicht sonst noch etwas über diese Bestie?«, fragte Aydrian und beugte sich auf seinem Stuhl nach vorn. »Ich habe mir nämlich geschworen, sie zu erlegen.«
»Vor dieser Geschichte in Micklins Dorf hatte ich noch nie von ihr gehört«, antwortete die Frau, und zwei der Männer pflichteten ihr nickend bei.
»Ich hab gehört, wie man in Palmaris von der Bestie geredet hat«, sagte der dritte. »Damals vor vielen Jahren, das war noch während der Pest. Es hieß, Königin Jilseponie hätte vor den Toren von St. Precious mit ihr gekämpft und dass sie sie dank ihrer magischen Fähigkeiten hat vertreiben können.«
»Auf Königin Jilseponie!«, brachte einer der beiden anderen mit erhobenem Becher einen Trinkspruch aus.
»Kann schon sein, aber das ist jetzt mehr als zehn Jahre her«, gab die Frau zu bedenken. »Glaubst du, das war dieselbe Bestie, wegen der Micklins Dorf aufgegeben wurde? Oder dieselbe, die in Masur Tuber drei Menschen gerissen hat?«
»Masur Tuber?«, hakte Aydrian sofort nach, doch die anderen waren viel zu sehr in ihr Gespräch vertieft, um überhaupt Notiz von ihm zu nehmen.
»Klar, und auch dieselbe, die Baron Bildeborough aus Palmaris getötet hat«, ereiferte sich sofort der dritte. »Bischof Marcalo De’Unnero, so nannten sie die Bestie damals. Ein äußerst übler Kerl war das. Dieselbe Bestie, die auch Nachtvogel umgebracht hat!«
Die anderen Dorfbewohner stöhnten auf und nickten ernst, Aydrian dagegen blieb fast die Luft weg, und einen Ton brachte er erst recht nicht mehr heraus. War dies alles irgendwie vorherbestimmt?, fragte er sich. Spielte das Schicksal ihm einen grausamen Streich, oder tat es ihm am Ende sogar einen Gefallen, wenn es ihm Gelegenheit gab, den Tod seines Vaters zu rächen?
Aydrian lauschte aufmerksam, während die anderen weiter miteinander plauderten und sich über Nachtvogel, seinen Vater, und De’Unnero, den Wertiger, unterhielten. Sie stellten Vermutungen darüber an, ob es sich tatsächlich um ein und dieselbe Bestie handelte und ob es vielleicht doch Vater Markwart gewesen war, der den großen Beschützer der Menschheit getötet hatte.
Als ihre Diskussion endlich abzuflauen begann, fand Aydrian seine Stimme wieder, und er wiederholte seine Frage: »Masur Tuber?«
Und damit begann die nächste Etappe von Aydrians Hetzjagd – mit einer Reise nach Südosten zu einem winzigen Dorf namens Masur Tuber. Wenige Tage darauf traf er dort ein und musste feststellen, dass in dem Nest eine ebenso triste und gedrückte Stimmung herrschte wie am winterlichen grauen Himmel.
Nachdem der junge Hüter erklärt hatte, er habe es auf die Bestie abgesehen, hatte er keine Mühe,
Weitere Kostenlose Bücher