Schattenelf - 1 - Der dunkle Sohn
bestreiten, dass Avelyn zumindest teilweise für seinen Tod verantwortlich war.
»Des weiteren wäre da noch sein übermäßiger Alkoholgenuss, wie ihr selbst bezeugt habt«, fuhr Bou-raiy fort. »Und da wäre sogar noch Avelyns – wie soll ich es taktvoll formulieren? – allseits bekannte Vertraulichkeit jenseits aller kirchlichen Grundsätze mit …«
»Mit mir«, beendete Jilseponie gelassen den Satz, wobei ihr Mienenspiel die Übellaunigkeit verriet, die sie in diesem Augenblick überkam. »Ganz recht, Meister Bou-raiy, wir waren intim miteinander«, gestand sie freimütig, woraufhin der Mann mit den scharf geschnittenen Gesichtszügen die Brauen hochzog. »Allerdings nicht körperlich. Wir waren uns in unserer Verbindung über den Seelenstein beim Prozess des Heilens nahe, als Avelyn mich im Gebrauch der heiligen Steine unterwies.«
»Und auch das …«, wollte Bou-raiy einwenden.
»… war absolut notwendig und diente dem Wohl der ganzen Welt«, schloss Jilseponie an seiner statt. »Falls Ihr gekommen seid, um Euch für eine allseits vorteilhafte Partnerschaft auszusprechen, dann habt Ihr einen sehr verschlungenen Pfad zu Eurem Ziel gewählt«, sagte sie schneidend. »Und falls Ihr mich zu Eurer Feindin machen wollt, dann seid Ihr wirklich ein Narr.«
Ihre Offenheit ließ Fio Bou-raiy stutzen. Er hob abwehrend die Hände, dann legte er nachdenklich die Finger an die Lippen und atmete tief durch, so als wollte er die letzten Augenblicke des ein wenig aus dem Ruder gelaufenen Gesprächs noch einmal zurückspulen.
»Ich versuche lediglich darauf hinzuweisen, dass der Prozess nach wie vor schwierig ist«, rechtfertigte er sich, ein für Meister Fio Bou-raiy durchaus ungewöhnliches Verhalten. »Und dass meine Unterstützung die Dinge –«
»Unterstützung, ganz recht; das sollte Euer Gefühl von Euch verlangen, wenn Ihr von so aufrechtem Wesen seid, wie Ihr immer behauptet.«
Jilseponies unverblümte Bemerkung ließ ihn hilflos schmunzeln. »Ich werde nicht einfach nur meine Einwilligung geben, sondern mich aktiv für Sankt Avelyn einsetzen«, fuhr Bou-raiy fort. »Denn natürlich ist genau das der richtige Weg. Ich möchte Euch allerdings bitten, mir auf diesem Weg zu folgen. Und das ist nicht nur eine Bitte, sondern auch ein Angebot; bitten möchte ich Euch nur, zu überlegen, was für die Welt am besten ist, bevor Ihr Eure Entscheidung fällt.«
Jilseponie verkniff sich ihre offenkundig unwirsche Erwiderung und ließ den Mann weiterreden.
»Ich möchte Euch ein Amt, gewissermaßen als Ergänzung zu Eurem derzeitigen Rang, anbieten«, erläuterte Bou-raiy. »Ich will ganz ehrlich zu Euch sein; Bischof Braumin billigt meinen Vorschlag, und zwar von ganzem Herzen. Er und ich sind der Überzeugung, Ihr könntet sowohl dem Königreich als auch Kirche und Volk weit besser dienen, wenn Ihr, als Ergänzung zu der Krone, die Ihr derzeit auf Eurem Haupte tragt, einen weiteren Titel übernehmt. Wir möchten Euch daher bitten, eine Ernennung zur obersten Ordensschwester von St. Honce in Erwägung zu ziehen, eine Position, die meiner als Ordensmeister entspricht und Euch nur wenige liturgische Pflichten abverlangt. In den Augen des Volkes aber wäre es ein Zeichen dafür, dass Kirche und Staat sich einig sind.«
Und eines, das die engsten Freunde meines Gemahls in helle Aufregung versetzen wird, dachte Jilseponie, sprach es jedoch nicht aus. Sie konnte sich gut vorstellen, was für ein Gesicht Herzog Kalas machen würde, sollte sie tatsächlich die Position einer obersten Ordensschwester von St. Honce übernehmen.
Jilseponies Gedanken gingen jedoch rasch in eine andere Richtung und befassten sich eher mit dem Mann, von dem dieser überraschende Vorschlag kam, als mit den möglichen Reaktionen, falls sie einwilligte. Warum in aller Welt sollte Fio Bou-raiy ihr dieses Angebot machen? Was hatte er davon? Zweifellos hätte er ihr diesen Vorschlag niemals unterbreitet, wenn er nicht vor allem für ihn von Vorteil wäre.
»Ihr hättet nur wenige Pflichten, darunter keine, die nicht freiwillig wären«, fuhr Bou-raiy fort. »Ihr würdet dadurch zu dem zweifellos bald anberaumten Abtkollegium eingeladen werden: Das käme König Danube doch gewiss nicht ungelegen.«
Schon möglich, überlegte Jilseponie; in Wahrheit schwirrten ihr jedoch viel zu viele Möglichkeiten durch den Kopf, um sie in diesem Moment zu sortieren.
»Und was meint Abt Ohwan dazu?«, fragte sie, und schon zeigten sich die ersten Risse in
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