Schattenelf - 1 - Der dunkle Sohn
aus dem Mund seiner Elfenlehrer, und mittlerweile hatte Aydrian ein recht feines Gespür dafür entwickelt, dass nicht alles, was die Touel’alfar ihm erzählten, zwangsläufig auch der Wahrheit entsprach.
»Falls Lady Dasslerond mit dem Gedanken spielen sollte, in dieses Gebirge im Süden zu reisen«, fuhr Brynn fort, »dann wäre es für sie und jeden, den zu entsenden sie beschließt, besser, die Yatols hätten diese Region bereits verlassen.«
»Weißt du das sicher?«, fragte Aydrian, dessen Blick sich neugierig verengte. »Wird sie Andur’Blough Inninness verlassen? Oder jemand anderen in den Süden schicken?«
Brynn zuckte mit den Achseln. »Das war nur eine Vermutung von mir«, gestand sie. »Warum sonst sollte sich die Anführerin der Touel’alfar für die hoffnungslose Lage der To-gai-ru interessieren?«
»Vielleicht wäre es Lady Dasslerond einfach lieber, wenn ihre Welt von weniger Menschen bevölkert wäre«, entgegnete Aydrian unverblümt. »Wie ließe sich dieses Ziel besser erreichen als mit Hilfe eines Krieges?«
Brynn sah sich nervös um; ihre entsetzte Miene verriet, dass Aydrian in ihren Augen mit dieser Beschuldigung die Grenzen des Anstands soeben bei weitem überschritten hatte.
Seine Reaktion bestand aus einem unbekümmerten Achselzucken. »Ich will ja gar nicht behaupten, dass ich die Beweggründe der Touel’alfar verstehe«, sagte er. »Dir geht es offenbar anders, aber hast du in den paar zusätzlichen Ausbildungsjahren wirklich so viel mehr über sie gelernt?«
Brynn sah ihn fest an.
»Oder kannst du gar nicht anders, als einfach immer nur das Beste über sie zu denken?«, fuhr Aydrian fort.
»Sie sind meine Familie«, erwiderte die junge Frau.
»Deine Herren«, korrigierte Aydrian sie sofort. »Schon möglich, dass du sie als deine Familie ansiehst, aber über dich denken sie bestimmt nicht so. Auch nicht über mich oder überhaupt über einen Menschen. Nicht einmal über meinen Vater, Nachtvogel. Es stimmt schon, sie sprechen sehr respektvoll über ihn und erzählen unentwegt, was für ein großer Hüter er gewesen sei. Aber nicht einmal seine Heldentaten können ihn in den Stand eines Touel’alfar erheben – jedenfalls nicht in den Augen der Touel’alfar selbst.«
Brynn presste die Lippen zusammen – sie wusste, dass er Recht hatte, wie Aydrian in diesem Augenblick klar wurde. Es gefiel ihm, Recht zu haben.
»Sie sind alles, was ich an Familie habe«, erwiderte Brynn trotzig. »Und das gilt auch für dich.«
»Dann habe ich eben keine Familie«, erklärte Aydrian, und als ihm die Worte über die Lippen kamen, stellte sich heraus, dass sie sowohl für Aydrian als auch für Brynn etwas von einer Offenbarung hatten.
»Wie kannst du schlecht von denen sprechen, die dir das Leben gerettet haben?«, schimpfte Brynn. »Von denen, die dir Kenntnisse vermitteln, die dich der breiten Masse deiner Art überlegen machen?«
»Die mich aber niemals auch nur auf die unterste Stufe ihrer Art erheben werden«, entgegnete Aydrian. »Wenn ich Lady Dasslerond als meine Familie betrachte, dann mache ich mir falsche Hoffnungen, denn sie wird mich nie so sehen.«
»Die Touel’alfar sind den Hütern überaus zugetan«, hielt Brynn dagegen.
»So wie du deinem Pferd«, konterte Aydrian.
Brynn wollte etwas erwidern, beließ es dann aber bei einem tiefen Seufzer. Sie gab die Hoffnung auf, Aydrian überzeugen zu können. Aus seiner Sicht entsprach seine Bemerkung durchaus den Tatsachen. Zweifellos wusste Brynn ebenso gut wie Aydrian, was es hieß, als Mensch unter den Touel’alfar zu leben, und es war in der Tat so, dass die Elfen sich den Menschen oder jeder anderen Art überlegen fühlten. Selbst Belli’mar Juraviel, Brynns Mentor und eben jener Elf, der sich nach Ansicht der Touel’alfar den Menschen gegenüber noch am freundlichsten verhielt, hielt unverrückbar an diesem Rassismus, dieser selbstverständlichen Überheblichkeit fest.
Trotzdem sah Brynn die Dinge nicht so wie Aydrian. All ihren Unzulänglichkeiten zum Trotz gaben die Touel’alfar ihr etwas Außergewöhnliches und machten ihr damit ein großes Geschenk, mit dessen Hilfe sie das Leben ihres Volkes verbessern und die Grenzen ihrer Möglichkeiten erkennen konnte.
»Früher hätte ich sie vielleicht auch mit deinen Augen gesehen«, erwiderte sie, obwohl es gelogen war, denn sie hatte in den Touel’alfar nie etwas anderes gesehen als ihre Retter und später ihre Freunde. »Bei deiner Rückkehr aber …« Das Wort
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