Schattenelf - 1 - Der dunkle Sohn
sonnenbesprenkelte Wiese dahinzujagen oder mit einem Schiff die bekannte Welt zu umsegeln. Jeder seiner wachen Augenblicke war durchdrungen von Jilseponies Wesen. Ja, er hatte Vivian geliebt, aber nicht so, nicht mit dieser Heftigkeit und verzweifelten Leidenschaft. Konnte er sich damit zufrieden geben, dass Jilseponie ihm soeben gestanden hatte – und zwar wahrheitsgemäß, wie er wusste –, dass sie niemals einen anderen so würde lieben können wie Elbryan? Würde ihm ihre halbe Liebe genügen?
Sie würde es wohl müssen, gestand sich Danube ein, denn wenn er Jilseponie Wyndon betrachtete, die Frau, die ihm Herz und Seele gestohlen hatte, dann wusste König Danube Brock Ursal, dass er gar keine andere Wahl hatte. Wenn er sie ansah, wenn er sie roch und jedem ihrer Worte lauschte, dann musste König Danube einfach glauben, dass ihre halbe Liebe eine Hälfte mehr war, als er verdiente.
»Sie sträubt sich«, bemerkte Fio Bou-raiy, als er mit Abt Braumin auf dem hohen Wehrturm der Abtei St. Precious saß. Meister Viscenti hatte die beiden begleitet, aber Bou-raiy hatte ihn mit einem Auftrag fortgeschickt – einem Auftrag, wie Braumin jetzt erkannte, der lediglich als Vorwand diente, damit er und Bou-raiy ungestört sein konnten.
»Sie sträubt sich, weil sie die wahre Liebe kennen gelernt hat«, entgegnete Braumin, der befürchtete, Bou-raiy könnte damit irgendwie ein Urteil über Jilseponie fällen. »Sie hat die Liebe zu Elbryan kennen gelernt, und ich fürchte, es gibt nicht viel, was im Vergleich damit Bestand hätte.«
»Er ist König des Bärenreiches«, lautete Bou-raiys wenig überraschende Antwort. »Er ist der mächtigste Mann der Welt.«
»Selbst der König des Bärenreiches vermag neben dem Mann, der als Nachtvogel bekannt war, nicht übermäßig hell zu strahlen«, sagte Braumin. »Selbst der ehrwürdige Vater des Abellikaner-Ordens …«
»Hütet Eure Zunge«, fiel ihm Fio Bou-raiy scharf ins Wort, um sich jedoch schnell wieder zu beruhigen; seine angespannten Züge wurden weicher. »Ich weiß um Eure Liebe und Verehrung für diesen Mann, Bruder Braumin, trotzdem besteht keinerlei Veranlassung, sich zu Lästerungen hinreißen zu lassen. Ihr werdet ihm nur ungenügend gerecht, wenn Ihr ihn so über die Sterblichen erhebt. Wenn seine eigentlichen Verdienste nicht genügen …«
»Das tun sie ja«, versicherte Braumin dem alten Meister, obwohl er Mühe hatte, seinen aufkommenden Zorn nicht offen zu zeigen. »Sie gehen weit über das hinaus, was man von jedem Sterblichen, von jedem König oder ehrwürdigen Vater erwarten kann …«
»Genug!«, unterbrach ihn Fio Bou-raiy lachend. »Ich gebe mich geschlagen, mein guter Abt Braumin!«
Der Ton, vor allem diese freundliche und respektvolle Ehrerbietung, überraschte Braumin, denn dies gehörte zweifellos nicht zu den Dingen, die er von Fio Bou-raiy erwartet hätte. »Also könnt Ihr Jilseponie keinen Vorwurf machen, wenn ihr Herz für die Aufmerksamkeiten eines anderen nicht offen ist, ob König oder nicht.«
Bou-raiy nickte lächelnd und seufzte schwer. »Wie wahr«, klagte er. »Dabei wäre es für das gesamte Königreich besser, wenn Jilseponie sich überwinden könnte, König Danubes Liebe zu erwidern.«
Abt Braumin sah den Meister fragend an.
»Sie ist eine Freundin der abellikanischen Kirche«, erläuterte Fio Bou-raiy. »Und in diesen Zeiten des Wohlstandes und des Friedens kann eine engere Verbindung zwischen Staat und Kirche nur von Vorteil sein.«
Abt Braumin fiel es schwer, sich seine Zweifel nicht anmerken zu lassen. Er kannte Fio Bou-raiy mittlerweile seit vielen Jahren, und obschon der Mann, wie so viele abellikanische Ordensbrüder, eine Offenbarung erfahren hatte, die ihm beim Bund von Avelyn den rechten Weg gewiesen hatte, war er zweifellos ein selbstgerechter Mensch. Überdies war er ehrgeizig und so entschlossen wie kaum ein anderer, in das Amt des ehrwürdigen Vaters aufzusteigen. War Fio Bou-raiy nach Palmaris gekommen, um sich lobend über Jilseponie und ihre Chancen, eines Tages Königin zu werden, zu äußern und Braumin damit auf seine Seite zu ziehen? Denn wenn der Zeitpunkt gekommen war, einen neuen ehrwürdigen Vater vorzuschlagen und zu wählen, würden die Meister Castinagis, Viscenti und Talumus von St. Precious wahrscheinlich Abt Braumins Beispiel folgen.
»Vielleicht im Frühjahr«, räumte Abt Braumin einen Augenblick später ein, woraufhin Fio Bou-raiy ihn fragend ansah. »Vielleicht findet Jilseponie im
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