Schattenelf - 1 - Der dunkle Sohn
besser als irgendjemand sonst geeignet, der Kapelle als oberster Geistlicher vorzustehen. Es wäre das Beste, wenn Ihr, der Ihr Euer Herz an Avelyn schon länger vergeben habt als jeder andere Ordensbruder in der Kirche, den Wechsel von Kapelle zu Abtei überwacht.«
In Braumin Herdes Ohren klang dies durchaus verlockend – einerseits. Es wäre tatsächlich eine große Ehre für ihn, eine solch ruhmvolle Ehrung zum Gedenken an den toten Helden Avelyn zu beaufsichtigen. Im Übrigen war er der nicht enden wollenden Pflichten hier in der geschäftigen Stadt längst ein wenig überdrüssig. Caer Tinella mochte sich als willkommene Abwechslung erweisen, so lange die Beschränkung seiner Verantwortung nicht mit einer Herabstufung seines Ranges einherging, die Berufung vorübergehend war und man Braumin eine baldige Rückkehr auf seinen Posten in St. Precious zusicherte.
»Die Berufung wäre natürlich nicht auf Dauer«, versicherte ihm Fio Bou-raiy, als könnte er seine Gedanken lesen.
Braumin bedachte den Mann mit einem langen, festen Blick. Nichts von alledem ergab für ihn unmittelbar einen Sinn, aber er kannte Bou-raiy gut genug, um zu wissen, dass unterhalb der Oberfläche ein Geflecht aus Intrigen lauerte – Intrigen, die Bou-raiy persönlich zum Vorteil gereichen würden. »Ihr bittet mich, nach Norden, nach Caer Tinella zu gehen, um den Weg für Eure Machtübernahme hier in Palmaris freizumachen?«, fragte er, überzeugt, alles verstanden zu haben.
Das Lachen von Bou-raiy, das darauf folgte, steigerte Braumin Herdes Verwirrung nur noch.
»Wohl kaum!«, erwiderte Bou-raiy mit offenkundiger Aufrichtigkeit.
»Denn selbst wenn ich mit König Danube spreche«, fuhr Braumin fort, »selbst wenn ich Jilseponie anflehe, in Eurem Namen mit ihm zu sprechen, und sie einwilligt, bezweifle ich, dass er die Zeit für einen so dramatischen Schritt gekommen sieht. Der erste Eindruck, den er von einem Bischof hatte, war alles andere als angenehm …«
Braumin hielt inne, da Fio Bou-raiy nur noch amüsierter lachte. »Ich versichere Euch, selbst wenn Gott sie mir persönlich anböte, wäre ich nicht gewillt, eine solche Stellung anzustreben oder anzunehmen«, erklärte der Meister von St. Mere-Abelle. »Nein, ich bin gekommen, um Euch einen Besuch abzustatten und als offizieller Gesandter von St. Mere-Abelle der Eröffnung der Kapelle von Avelyn beizuwohnen und um mich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, wie sich das gegenseitige Interesse zwischen König Danube und Jilseponie entwickelt. Nach der Weihung der Kapelle werde ich nicht länger als ein, zwei Wochen in Palmaris bleiben. Meine Bestimmung liegt in St. Mere-Abelle, wo ich meine Pflichten als oberster Berater des ehrwürdigen Vaters Agronguerre wieder aufnehmen werde. Ich habe weder Pläne für Palmaris, Abt Braumin, noch für Euer hoch geschätztes St. Precious.«
Braumins Blick verdüsterte sich, als er den Mann misstrauisch musterte und dabei erkennen musste, dass er Bou-raiys scheinbar wirren Gedankengängen nicht folgen konnte. Wenn weder Braumin noch er selbst, wer sollte dann seiner Ansicht nach den Vorsitz in Palmaris führen? Meister Glendenhook von St. Mere-Abelle vielleicht, denn der war stets ein Handlanger Bou-raiys gewesen. Doch das ergab für Braumin noch immer keinen Sinn, denn was hätte Bou-raiy dadurch auf seinem Weg in das Amt des ehrwürdigen Vaters gewonnen? Glendenhook besaß bereits Mitsprache- und Stimmrecht in allen Abtkollegien, und die Chancen, Glendenhook, der in jeder Hinsicht alles andere als diplomatisch war, in ein so mächtiges Amt zu hieven, waren eher gering. Nein, in diesem Augenblick ergab nichts von alledem für Braumin einen Sinn.
»König Danube würde sicher keiner Ernennung eines weiteren Bischofs zustimmen, der als Beamter der Kirche dient«, erläuterte Fio Bou-raiy. »Nicht nach dem Debakel mit dem ehrwürdigen Vater Markwart und Bischof De’Unnero. Aber vielleicht könnten wir den Wünschen des Königs entgegenkommen, indem wir durchblicken lassen, dass die derzeitige weltliche Macht in Palmaris beide Rollen übernehmen sollte.«
Braumin brauchte einen Augenblick, um das zu verdauen, und als er schließlich begriff, dass Fio Bou-raiy, der strenge Meister von St. Mere-Abelle, soeben erklärt hatte, er werde einer Ernennung Jilseponies, die nicht einmal offiziell als Priesterin der abellikanischen Kirche geweiht war, zur Äbtissin von St. Precious, der drittwichtigsten Abtei des gesamten Ordens, zustimmen, bekam er
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