Schattenelf - 6 - Der letzte Kampf
gehalten wurde.
»Wo hat er öffentlich gesprochen?«, wollte Roger wissen.
»Auf dem großen Platz, wie es sich für einen Abt von St. Precious geziemt«, antwortete Destou.
Roger hakte augenblicklich nach. »Hat er sich in Begleitung der Ordensbrüder von St. Precious dorthin begeben? Hat er gesprochen, nachdem oder während es regnete? Und wenn ja, waren seine Schuhe bereits nass, als er das Gebäude der Abtei verließ?«
Eine plötzliche Erkenntnis hellte Bruder Hoyets Miene auf. »Ja, richtig, das waren sie«, antwortete er. Er sah zu Destou, der wieder bloß mit den Schultern zuckte. Offenbar war ihm nichts dergleichen aufgefallen.
»Und De’Unnero wohnt in St. Precious?«, fragte Roger.
Hoyet nickte.
»Und Aydrian auf Chasewind Manor?«
Wieder ein Nicken. »Obwohl er, nach allem, was man so hört, jetzt vermutlich bald aufbrechen und nach Westen marschieren wird«, erklärte Bruder Hoyet.
Roger bewegte seinen Kopf langsam auf und ab, während er über das Gehörte nachdachte. Die Verliese von Chasewind Manor kannte er zur Genüge. Als Markwart in die Stadt kam, um gegen die Anhänger Avelyns, darunter auch Braumin und Jilseponie, zu kämpfen, waren viele seiner Freunde dort festgehalten worden. Und natürlich hatte er in den letzten Jahren, als er dort gelebt hatte, reichlich Gelegenheit gehabt, die Örtlichkeit vom Keller bis zum Dachfirst auszukundschaften – einschließlich sämtlicher Katakomben, Verliese und der zahlreichen Geheimgänge.
»Werdet Ihr ihn suchen?«, fragte Bruder Destou.
»Würde ich es nicht tun, dürfte ich mich wohl kaum als seinen Freund bezeichnen«, erwiderte Roger, worauf die beiden Mönche verlegen den Kopf senkten.
Roger bemerkte, wie die beiden einen Blick wechselten. Auf einmal wurde ihm klar, dass diese zwei Braumin an De’Unnero verraten hatten, da man sie sonst ebenfalls in Ketten gelegt hätte. Sie hatten gewiss keine geringe Schuld auf ihre Schultern geladen. Wäre er jünger gewesen, hätte er ihnen vermutlich Feigheit vorgeworfen, jetzt aber, nachdem er so viel von Elbryan und Jilseponie gelernt hatte, wusste er, wie sehr ihr Gewissen sie plagte.
»Ihr habt keinen Verrat an Bischof Braumin begangen«, erwiderte Roger in einem Anflug von Großmut. »Vielmehr seid Ihr ein kolossales Risiko eingegangen, indem Ihr Euch heute mit mir getroffen habt.« Er schloss mit einem Augenzwinkern und machte Anstalten, den Fischkarren an den beiden vorbeizuschieben. »Den Barsch könnt Ihr getrost behalten«, rief er ihnen noch zu.
Die beiden jungen Ordensbrüder nickten verlegen. Hoyet deutete mit dem Fisch in der Hand einen flüchtigen Gruß an, dann entfernten sie sich in Richtung St. Precious.
Wären sie etwas aufmerksamer gewesen, hätten sie die schattenhafte Gestalt bemerkt, die sie interessiert aus einem kleinen Fenster im zweiten Stock des weitläufigen Gebäudes beobachtete.
Marcalo De’Unnero stand inmitten einer großen Menschenansammlung am Nordtor der Stadt, als Aydrian die vierhundert Kingsmen aus Palmaris hinaus – und anschließend nach Westen führte. Der junge König schien auch nach dem Verlust seines entlaufenen Hengstes kaum etwas von seiner imposanten Erscheinung eingebüßt zu haben. Er ritt ein kräftiges To-gai-Pony, eines der zahlreichen Exemplare aus den Ställen von Palmaris, die übrig geblieben waren, nachdem ein Kontingent der Allhearts mit Graf DePaunch in den Golf von Korona ausgelaufen war.
Hinter Aydrian ratterten Wagen durch das Stadttor, und die gut ausgebildeten Soldaten marschierten in perfektem Gleichschritt. Die halbe Stadt, so schien es, war zusammengelaufen, um sich ihren Abmarsch anzusehen.
De’Unnero richtete sein Augenmerk nun auf die in kleinen Gruppen zusammenstehenden Bürger, von denen viele, das wusste er, voller Angst zu ihm herüberspähten. Trotz der gut zwölf Jahre, die seither verstrichen waren, erinnerten sich viele noch sehr gut an die – wenn auch kurze – Herrschaft von Bischof De’Unnero.
Diesmal würde alles anders werden, schwor sich der Mönch. Gemeinsam mit Aydrian hatte er in Palmaris einen klaren Kurs für sich abgesteckt, einen Kurs, der die Einwohnerschaft der Stadt zumindest ruhig stellen, wenn nicht gar für ihren jungen König und seinen obersten Berater begeistern würde. Es würde weder öffentliche Hinrichtungen noch Massenverhaftungen geben – nicht einmal irgendwelche Verordnungen, die, wie so oft während der letzten zehn Jahre, die Rechte der Bevölkerung, ihrem gewohnten
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