Schattenfall
sie.
»Du bist eine Lügnerin!«
Esmenet befiel eine plötzliche Kälte. Sie schenkte dem Priester ein falsches Lächeln und befreite ihre Hand dann mit einem Ruck aus seinem Griff. Der geifernde alte Dummkopf stolperte rückwärts. Sie überflog die Menge, die sich unterdessen versammelt hatte, streifte die fünf Jungen mit einem vernichtenden Blick und machte sich dann auf den Weg zur Landstraße zurück.
»Hiergeblieben!«, brüllte der Priester. »Hiergeblieben!«
Sie ging so würdig weiter, wie die Umstände es zuließen.
»Lasst keine Hure leben«, zitierte der Alte, »denn ihr Schoß ist ein Sündenpfuhl!«
Esmenet blieb stehen.
»Lasst keine Hure leben«, fuhr der Priester fort und hatte nun einen hämischen Ton, »denn sie schadet den Gerechten und ihren Nachkommen! Steinigt sie, damit sie euch nicht in Versuchung führt und…«
Esmenet fuhr herum. »Schluss jetzt!«, schrie sie aufgebracht.
Fassungsloses Schweigen.
»Ich bin am Ende!«, rief sie. »Seht ihr das nicht? Ich bin praktisch schon tot! Ist das nicht genug?«
Es waren einfach zu viele Leute da und glotzten. Sie drehte sich um und humpelte weiter Richtung Via Karia.
»Hure!«, rief einer.
Etwas knallte gegen ihren Hinterkopf, und sie fiel auf die Knie. Ein zweiter Stein traf sie an der Schulter. Sie hob die Hände, um sich zu schützen, kam stolpernd auf die Beine und versuchte, rasch weiterzugehen, doch die fünf Jungen sprangen wieder um sie herum und bombardierten sie mit Flusskieseln. Dann sah sie aus dem Augenwinkel, dass der mit dem schiefen Blick etwas Handgroßes in der Rechten hatte und ausholte. Sie schreckte zurück, aber zu spät. Der Schlag ließ ihre Kiefer aufeinander krachen; sie taumelte kurz und stürzte zu Boden, rollte in den kalten Dreck, stemmte sich mühsam auf alle viere und hob ein Knie vom Boden. Ein kleiner Stein traf sie schmerzhaft an der Wange, doch sie rappelte sich auf und schleppte sich weiter, so gut sie konnte.
Die ganze Zeit hatte alles so grauenhaft selbstverständlich gewirkt. Sie musste hier so schnell wie möglich verschwinden. Die Steine waren doch kaum mehr als Regentropfen, die eine Böe von Bäumen und Büschen geweht hatte – Widrigkeiten, die nicht ihr persönlich galten…
Jetzt weinte sie hemmungslos. »Hört auf«, schrie sie. »Lasst mich endlich in Ruhe!«
»Hure!«, brüllte der Priester.
Inzwischen umgab sie eine viel größere Menge, die laut johlte und nach Kieseln griff, die überall herumlagen.
Sie spürte einen betäubenden Schlag neben dem Rückgrat, riss die Schultern zurück und langte unwillkürlich dorthin, wo sie getroffen worden war. Dann ein brüllender Schmerz an der Schläfe, und sie fand sich am Boden wieder und spuckte feinen Schotter aus.
Aufhören! Bitte!
War das ihre Stimme gewesen?
Etwas Kleines, Scharfes prallte gegen ihre Stirn. Sie riss die Arme hoch und rollte sich wie ein Hund zusammen.
Bitte… Jemand muss sich meiner doch erbarmen…
Ein Donnern war zu hören. Dann schob sich etwas Großes vor den Himmel. Mit verweinten Augen blinzelte sie zwischen ihren Fingern hindurch und sah den geäderten Leib eines Pferdes vor sich und darauf einen Reiter, der zu ihr heruntersah. Einen schönen Reiter mit vollen Lippen. Seine großen braunen Augen blickten so wütend wie besorgt.
Ein Tempelritter.
Die Steinwürfe hatten aufgehört. Esmenet weinte in ihre schmutzigen Hände hinein.
»Wer hat damit angefangen?«, donnerte eine Stimme.
»Ach nee!«, brüllte der Priester. »Solche Angelegenheiten fallen ja wohl immer noch in meine Zuständig…«
Der Tempelritter hatte sich vorgebeugt und ihm mit der gepanzerten Faust einen Schlag verpasst.
»Hebt ihn auf«, befahl er den anderen. »Sofort}«
Drei Männer sprangen herbei, um dem Priester aufzuhelfen, dem Speichel und Blut von den zitternden Lippen rannen. Er brachte ein hustendes Schluchzen heraus, sah sich schreckstarr um und rief schließlich: »Dazu seid Ihr nicht befugt!«
»Nicht befugt?«, lachte der Reiter. »Willst du hier Befugnisse diskutieren?«
Während der Ritter den Priester schikanierte, rappelte Esmenet sich auf, wischte sich Blut und Tränen vom Gesicht und strich sich den Straßendreck vom Mantel. Ihr Herz hämmerte in den Ohren, und zweimal fürchtete sie kurz, vor Atemnot in Ohnmacht zu fallen. Beinahe hätte sie geschrien – nicht vor Schreck oder Schmerz, sondern in ungläubigem Staunen und nackter Wut. Wie hatte das passieren können? Was genau war überhaupt geschehen?
Sie
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