Schattenfall
Aus Liebe hatten sie alles geopfert und dafür nur Worte als Lohn verlangt, obwohl Worte doch nur einen Anschein von Sinn zu stiften vermochten.
Dieser Scylvendi aber war anders.
Kellhus war schon früher Argwohn und Misstrauen begegnet und hatte entdeckt, dass er Reserviertheit zu seinem Vorteil wenden konnte. Hatten ihm argwöhnische Menschen nämlich erst einmal ihr Vertrauen geschenkt, ergaben sie sich ihm viel unbedingter als die meisten anderen. Erst hatten sie nichts geglaubt, dann glaubten sie plötzlich alles – sei es, um für ihre anfänglichen Bedenken Buße zu tun oder um nicht zweimal den gleichen »Fehler« zu begehen. Viele seiner fanatischsten Anhänger waren Zweifler gewesen – jedenfalls zu Beginn.
Doch Cnaiürs Misstrauen unterschied sich nach Art und Umfang von jedem Argwohn, dem Kellhus bisher begegnet war, denn dieser Mann hatte allen anderen eines voraus: Er kannte ihn.
Als der Häuptling – die Miene flau vor Schreck, aber auch von Hass verkniffen – ihn auf dem Hügelgrab entdeckt hatte, da hatte Kellhus gedacht: Vater… endlich hab ich dich gefunden… Beide hatten im jeweils anderen Anasûrimbor Moënghus gesehen. Sie waren einander nie zuvor begegnet, sich aber doch innig vertraut.
Zunächst hatte sich diese Bindung als überaus vorteilhaft für die Mission von Kellhus erwiesen, hatte ihm das Leben gerettet und sicheres Geleit durch die Steppe garantiert. Doch sie hatte die Situation auch unberechenbar gemacht.
Der Scylvendi entzog sich weiter jedem Versuch, Einfluss auf ihn zu gewinnen. Egal, welche Einblicke ihm Kellhus gewährte – sie flößten ihm keine Ehrfurcht ein. Cnaiür ließ sich weder durch die ach so vernünftigen Betrachtungen einlullen, die der Dunyain über die Welt anstellte, noch vermochte ihm das indirekte Lob zu schmeicheln, das Kellhus in sein Reden einfließen ließ. Und wenn Cnaiür sich wirklich einmal für etwas von dem zu interessieren begann, was Kellhus erzählte, bremste er seine Neugier aufgrund von Erfahrungen, die Jahrzehnte zurücklagen, sofort ab. Bis jetzt hatte dieser Mann nur ungern und widerwillig den Mund aufgemacht.
Nach dreißig Jahren ständigen Grübelns über Moënghus war Cnaiür, was die Dûnyain anlangte, offenbar auf ein paar wesentliche Erkenntnisse gestoßen: Er kannte ihre Fähigkeit, die Gedanken ihres Gegenübers aus dessen Mienenspiel zu lesen, und wusste, wie intelligent sie waren. Er kannte ihre unbedingte Hingabe an ihre Mission und wusste, dass sie mit anderen nicht etwa redeten, um Ansichten auszutauschen oder Erkenntnisse zu gewinnen, sondern allein, um sich ihrer Gesprächspartner zu bemächtigen und sie zu manipulieren.
Er wusste zu viel.
Kellhus musterte Cnaiür aus den Augenwinkeln, beobachtete, wie er sich im Sattel zurücklehnte, als sich der Boden zum Fluss hin senkte, und sah, dass seine narbigen Schultern dabei reglos blieben, während die Hüften im Takt des Pferdes schwangen.
Steckst du dahinter, Vater? Hast du mir diesen Kerl ab Hindernis in den Weg gesetzt? Oder bin ich ihm zufällig begegnet?
Vermutlich war es Zufall, entschied er. Trotz der ungehobelten Sitten und Gebräuche seines Stamms schien ihm Cnaiür ungewöhnlich intelligent. Und die Gedanken wirklich schlauer Leute folgen selten ausgetretenen Pfaden. Sie verzweigen sich immer mehr, und dieser Cnaiür von Skiötha war gedanklich anscheinend schon recht weit herumgekommen und hatte Moënghus bis in Gebiete verfolgt, in die sich niemand sonst gewagt hatte.
Irgendwie hat er dich durchschaut, Vater – und jetzt durchschaut er mich. Welchen Fehler hast du begangen? Lässt er sich ungeschehen machen?
Kellhus blinzelte, war für den Bruchteil einer Sekunde dem Steilufer, dem Himmel und dem Wind entrückt und träumte in diesem kurzen Moment hundert Träume zugleich, in denen er seine Handlungsmöglichkeiten und deren Folgen durchspielte. Dann begriff er:
Bis jetzt hatte er versucht, den Argwohn des Scylvendi zu umgehen, obwohl er die Vorbehalte des Häuptlings zu seinen Gunsten hätte arbeiten lassen sollen. Nun betrachtete er Cnaiür auf neue Art und Weise, sah sofort, dass Kummer und Zorn sein hartnäckiges Misstrauen immer wieder schürten, und entschied sich, seinen Begleiter durch gewisse Bemerkungen, die er in einem ganz bestimmten Ton und mit der dazu passenden Mimik vorbringen würde, so sehr in die Enge zu treiben, dass ausgerechnet sein Argwohn ihn zwänge, Vertrauen – wenn auch vorsichtig – zu entwickeln.
Kellhus sah – dem
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