Schattenfall
beunruhigen, und zwar tief. Ein Scylvendi, der Angst hatte! Was mochte Kellhus für einer sein, dass er diesem Cnaiür Furcht einflößen konnte?
Sie hatte sich getraut, ihn danach zu fragen.
»Ich bin gekommen, um eine scheußliche Aufgabe zu erledigen«, hatte Kellhus nur geantwortet.
Sie glaubte ihm. Wie hätte sie einem solchen Mann nicht glauben sollen? Doch es gab noch andere, quälendere Fragen, die sie nicht zu stellen wagte, obwohl sie ihr jeden Abend in den Augen standen.
Warum nimmst du mich nicht? Warum machst du mich nicht zu deinem Siegeslohn? Er hat doch Angst vor dir!
Doch sie wusste die Antwort: Sie war Serwë, also ein Nichts.
Die Tatsache zu akzeptieren, ein Nichts zu sein – das war ihr schwergefallen. Sie hatte eine glückliche Kindheit gehabt, so glücklich, dass sie stets weinen musste, wenn sie daran dachte. Auf den Prärien von Cepalor hatte sie Wiesenblumen gepflückt, hatte wie ein Otter mit ihren Brüdern im Bach getobt, war um nächtliche Lagerfeuer getollt. Ihr Vater war sehr nachsichtig gewesen, hatte sie womöglich gar verzogen, und ihre Mutter hatte sie mit Liebe überhäuft. »Serchaa, süße Serchaa«, hatte sie immer gesagt, »du bist mein bildschöner Glücksbringer, mein Bollwerk gegen Kummer und Leid.« Damals war Serwë sehr von sich überzeugt gewesen, denn sie war geliebt und sogar über ihre Brüder gestellt worden. Sie war glücklich gewesen – auf jene grenzenlose Art, in der Kinder eben glücklich sind, die noch kein echtes Leid erdulden mussten, das sie hätte aus dem Gleichgewicht bringen können.
Natürlich hatte sie viele Geschichten vom Leiden gehört, doch das erzählte Elend hatte immer etwas Erhebendes gehabt, war Anlass zu moralischen Betrachtungen gewesen und hatte Lehren bereitgehalten, die sie schon kannte. Und selbst wenn das Schicksal sie enttäuschen würde – und das täte es ja gewiss nicht –, wäre sie standhaft, heldenmütig und ein leuchtendes Vorbild an Tapferkeit für die ermüdenden Seelen ringsum.
Dann hatte ihr Vater sie an den Herrn des Hauses Gaunum verkauft.
In der ersten Nacht dort hatte sie sich von vielen falschen Vorstellungen verabschieden müssen. Sie begriff schnell, dass es keine Gemeinheit und keine Verworfenheit gab, die sie nicht begehen würde, um Männern und ihren schweren Händen Einhalt zu gebieten. Als Konkubine im Haus Gaunum lebte sie in ständiger Sorge, denn einerseits musste ihr daran gelegen sein, den Hass der Frauen des Hauses nicht allzu sehr zu provozieren, andererseits aber tat sie gut daran, die eigenwilligen Gelüste der Gaunum-Männer zu befriedigen. Sie war ein Nichts, sagten sie ihr. Ein austauschbares Nichts. Und sie hatte ihnen beinahe geglaubt.
Bald begann sie zu beten, dieser oder jener Sohn des Hausherrn möge sie besuchen – selbst wenn es einer von den Grausamen war. Sie flirtete mit ihnen. Sie verführte sie. Sie war ihren Besuchern eine wahre Freude. Denn außer dem Stolz darauf, das Begehren der Männer zu wecken, und dem Vergnügen daran, es befriedigt zu haben, hatte sie – nichts.
Im großen Landhaus der Familie Gaunum hatte es ein Heiligtum voller kleiner Götzen gegeben, die den Ahnen gewidmet waren. Vor diesen Figuren hatte sie unzählige Male gekniet und gebetet, und immer hatte sie dabei um Gnade gefleht. Sie hatte die toten Mitglieder der Familie in jedem Winkel des Heiligtums spüren und hässliche Dinge flüstern hören können, was ihr böse Vorahnungen eingegeben hatte. Und wieder und wieder hatte sie um Gnade gefleht.
Wie als Antwort auf ihre Gebete hatte der Hausherr selbst, der ihr stets als distanzierter, silberhaariger Gott erschienen war, sie dann einmal im Garten angesprochen. Er hatte sie beim Kinn genommen und gerufen: »Bei den Göttern! Du wärst es sogar wert, dem Kaiser zu dienen, Mädchen… Heute Abend! Erwarte mich heute Abend!« Wie hatte sie da innerlich gejubelt! Ich wäre es wert, dem Kaiser zu dienen! Wie gründlich hatte sie sich an diesem Nachmittag rasiert! Wie aufgeregt hatte sie in Erwartung ihres abendlichen Besuchers die edelsten Duftöle auf getragen! Wert, dem Kaiser zu dienen! Und wie hatte sie geweint; als er dann doch nicht gekommen war. »Heul nicht, Serchaa«,hatten die anderen Mädchen gesagt. »Er steht mehr auf kleine Jungs.«
Danach hatte sie kleine Jungen ein paar Tage lang zutiefst verachtet.
Und sie hatte weiter zu den Götzen gebetet, obwohl deren gedrungene kleine Gesichter sie inzwischen auszulachen schienen. Sie, Serwë,
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