Schattenfall
Gerechtigkeit!
»Bitte!«, hatte sie gerufen, als Cnaiür auf sie zugekommen war. »Du musst uns retten!«
Sie sei wertlos, hatte man ihr im Haus Gaunum eingeschärft. Eins von den vielen wertlosen Norsirai-Früchtchen. Sie hatte ihnen geglaubt, aber weiter gebetet, ja gefleht. Zeigt es ihnen! Bitte! Zeigt ihnen, dass ich etwas bedeute…
Und dann hatte sie allen Ernstes einen wahnsinnigen Scylvendi um Gnade angefleht! Und Gerechtigkeit von ihm gefordert…
Dieser dumme Nichtsnutz! Als Cnaiür sich – noch blutbespritzt! – an sie herangemacht hatte, hatte sie sofort verstanden. Es ging nur nach seiner Lust und Laune, und sie hatte sich zu unterwerfen. Und Schmerzen und Todesangst auszustehen.
Gerechtigkeit war nur ein weiterer tückischer Gaunum-Götze.
Verstörende Erinnerungen gingen ihr durch den Kopf:
Zunächst musste sie an ihren Vater denken, der sie halbnackt aus dem Bett gezogen und in die teilnahmslosen Arme eines Fremden gestoßen hatte. »Jetzt gehörst du diesen Leuten, Serwë. Mögen unsere Götter über dir wachen.«
Dann stand ihr Peristus vor Augen, wie er von seinen Schriftrollen aufgesehen und mit amüsierter Skepsis die Stirn gerunzelt hatte. »Vielleicht, Serwë, hast du deinen Platz in diesem Haus vergessen. Gib mir deine Hand, Kind.«
Als Nächstes dachte sie an die Gaunum-Götzen, die sie mit steinernen Mienen angegrinst hatten. Die Stille in ihrem Heiligtum kam ihr inzwischen höhnisch vor.
Dann tauchte die Erinnerung an Panteruth auf, daran, wie er sich die Spucke abgewischt, sein Messer gezogen und gesagt hatte: »Du wandelst auf einem schmalen Steg überm Abgrund, du Schlampe… Ich werde dir zeigen, wie schnell du abstürzen kannst.«
Schließlich dachte sie an Cnaiür, der sie fester als jede Fessel an den Handgelenken gepackt und ihr eingeschärft hatte: »Pass dich meinen Wünschen an, Mädchen. Und zwar ganz und gar. Ich dulde nicht den kleinsten Widerstand und vernichte alles, was sich nicht unterwirft.«
Warum waren sie so gemein zu ihr? Warum hasste sie jeder? Und bestrafte sie? Und tat ihr weh? Warum?
Weil sie Serwë war – ein Nichts. Und sie würde immer ein Nichts bleiben.
Und genau deshalb ließ Kellhus sie jeden Abend im Stich.
Irgendwann überschritten sie den höchsten Kamm des Gebirges, und der Weg verlor langsam an Höhe. Der Scylvendi erlaubte ihnen kein Feuer, doch die Nächte wurden allmählich wärmer. Wie die Haut einer überreifen Pflaume erstreckte sich vor ihnen die weite Ebene von Kyranae dunkel in die wächserne Ferne.
Kellhus blieb am Rand eines steil vorspringenden Felsrückens stehen und blickte auf wild zerklüftete Hänge, unterhalb derer sich Wälder mit altem Baumbestand erstreckten. Kûniüri hatte vom Dach des Demua-Gebirges sehr ähnlich ausgesehen. Doch während Kûniüri untergegangen war, war dieses Land lebendig: Das Gebiet der Drei Meere war die letzte große Zivilisation der Menschheit. Endlich war er angelangt.
Ich komme immer näher, Vater.
»So geht’s nicht mehr weiter«, rief der Scylvendi von hinten.
Dann soll es also jetzt sein. Kellhus hatte diesen Moment vorausgesehen, seit sie vor Stunden aufgebrochen waren.
»Was meinst du damit, Scylvendi?«
»Zwei wie wir können während eines Heiligen Kriegs unmöglich durchs Gebiet der Fanim ziehen. Sie würden uns schon weit vor Shimeh als Kundschaftern den Garaus machen.«
»Aber darum haben wir doch das Gebirge überquert, oder? Um stattdessen durchs Kaiserreich zu reisen…«
»Nein«, sagte der Scylvendi mürrisch. »Wir können nicht durch Nansur reisen… Ich hab dich hierher geführt, um dich zu töten.«
»Oder«, entgegnete Kellhus und blieb dabei der Aussicht zugewandt, »um von mir getötet zu werden.«
Dann drehte er dem Kaiserreich den Rücken zu und sah Cnaiür an, der zwischen von der Sonne aufgeheizten, steil aufragenden Felsen stand. Serwë wartete in der Nähe. Kellhus fiel auf, dass sie Blut an den Fingernägeln hatte.
»Darüber hast du die ganze Zeit nachgedacht, stimmt’s?«
Der Scylvendi fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Das musst du gerade sagen!«
Kellhus hielt Cnaiür zur Untersuchung in der hohlen Hand, wie ein Kind einen Vogel zwischen prickelnden Handflächen halten mag und dabei jedes Zittern spürt, das Schlagen des erbsengroßen Herzens und das panisch beschleunigte Atmen.
Sollte er den Häuptling wissen lassen, wie durchsichtig er für ihn war? Seit Cnaiür vor Tagen von Serwë erfahren hatte, wie es wirklich um
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