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Schattenfall

Schattenfall

Titel: Schattenfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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der Landschaft, standen teils schräg, teils senkrecht, verloren sich am Horizont und führten aus dem Gebirge heraus. Ihre grausige Last war von den Bergen ab- und dem fernen Meer zugewandt. Der endlos musternde Blick der Toten würde ihnen den Weg in die Hauptstadt weisen.
    »Da geht’s nach Momemn«, sagte Cnaiür und spuckte verächtlich ins Gras.

14. Kapitel
     
    DIE EBENE VON KYRANAE
     
     
     
    Manche meinen, der Mensch lebe in ständigem Kampf mit den Verhältnissen, ich hingegen sage, dass der Mensch dauernd versucht, sich den Verhältnissen zu entziehen. Was sind alle Werke des Menschen anderes ab ein flüchtiger Aufschub, ein Versteck, in das schon bald die Katastrophe einbrechen wird? Das Leben ist eine endlose Flucht vor dem Jäger namens Welt.
     
    Ekyannus VIII.: Buch der 111 Aphorismen
     
     
     
    IM KAISERREICH NANSUR, FRÜHLING 4111
     
    Das Jubilieren einer einsamen Heidelerche klang im Wind, der durchs Blätterdach des Waldes strich, fast wie eine Arie. Es ist Nachmittag, dachte sie. Nachmittags schweigen die Vögel immer.
    Serwë schlug die Augen auf und fühlte sich erstmals seit langer Zeit friedlich und ausgeglichen.
    Ihre Wange lag auf Kellhus’ Brust, die sich im Atemrhythmus seines Schlafs hob und senkte. Schon früher hatte sie versucht, sich zu ihm auf die Matte zu gesellen, doch er hatte das stets abgelehnt – um den Scylvendi nicht zu verärgern, wie sie vermutete. Aber nach einem langen Ritt durch die dunkle Nacht hatte er an diesem Morgen klein beigegeben. Und jetzt genoss sie die Wärme seines muskulösen Körpers und das entspannende Gefühl von Zuflucht, das sein schützender Arm gewährte. Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich liebe, Kellhus?
    Noch nie hatte sie einen solchen Mann getroffen – einen, der sie kannte und dennoch liebte.
    Einen gedankenverlorenen Moment lang folgte ihr Blick den mächtigen Ästen der gewaltigen Weide, unter der sie sich schlafen gelegt hatten. Weiter und weiter verzweigten sie sich zur Krone des Baumes hin und verschwanden dort langsam im dichten Blattwerk, das sich im Wind auf und ab bewegte und das Sonnenlicht in zahllosen Mustern durchs Geäst fallen ließ. Serwë konnte die Seele des großen Baums spüren – eine grübelnde, traurige, aber ungeheuer weise Seele, die durch Wurzeln in der Erde verankert war und zahllose durchsonnte Tage erlebt hatte.
    Nun hörte sie ein Plätschern.
    Der Scylvendi kauerte mit nacktem Oberkörper am Ufer, schöpfte mit der linken Hand Wasser aus dem Fluss und spülte damit vorsichtig die Wunde am rechten Unterarm. Sie beobachtete ihn durch die Wimpern ihrer beinahe geschlossenen Lider und tat, als würde sie schlafen. Narben hatten seinem breiten Rücken tiefe Furchen geschlagen und waren ein zweites Register der Erinnerung, das den Swazond auf seinen Armen in nichts nachstand.
    Als spürte der Wald ihren musternden Blick, wurde er still, und dieses Schweigen ließ den vornehmen Ernst der Bäume nur deutlicher in Erscheinung treten. Selbst der einsame Vogel verstummte und überließ Cnaiürs leisen Badegeräuschen das Feld.
    Vielleicht zum ersten Mal hatte Serwë keine Angst vor dem Scylvendi. Sie fand, dass er einsam wirkte, sogar sanft. Er senkte den Kopf zum Wasser und begann, sein langes schwarzes Haar zu waschen. Die glasige Oberfläche des Flusses, auf der Zweige und flaumiger Blütenstaub trieben, zog langsam an ihm vorbei. Am Ufer gegenüber konnte sie Libellen erkennen, die knapp über der spiegelglatten Wasseroberfläche flogen.
    Dann sah sie auch den Jungen.
    Erst entdeckte sie nur sein Gesicht, das halb hinter dem Stamm eines abgestorbenen Baums hervorschaute, der moosbewachsen am Boden lag. Dann sah sie auch seine schmalen Glieder, die so reglos waren wie die Äste, die sie da und dort verdeckten.
    Ob du wohl eine Mutter hast?, dachte sie, doch als sie merkte, dass er Cnaiür beobachtete, ergriff sie panische Angst.
    Lauf weg! Verschwinde!
    »He, Scylvendi«, sagte Kellhus leise. Erschrocken wandte der Utemot sich zu ihm um.
    »Tus’afaro to gringmut t’yagga«, meinte der Dûnyain, und Serwë spürte ihn dabei nicken.
    Cnaiür folgte seinem Blick und spähte ins Halbdunkel des gegenüberliegenden Ufers. Einen atemlosen Moment lang sahen der Junge und der Scylvendi einander in die Augen.
    »Komm her, Kind«, sagte Cnaiür über das schweigende Gewässer hinweg. »Ich zeig dir was.«
    Der Junge schwankte zwischen Vorsicht und Neugier.
    Nein! Du musst wegrennen… Na los!
    »Komm«, sagte

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