Schattenfall
Wahrheit erklärte Leidenschaft, Achamian, und alle Leidenschaften sind gleich wahr. Also kannst du mir keine Möglichkeit aufzeigen, die ich tatsächlich in Erwägung ziehen könnte, und keine Angst heraufbeschwören, die wahrer wäre als meine Anbetung. Zwischen uns kann es also kein Gespräch geben.«
»Dann bitte ich um Entschuldigung… Sprechen wir nicht mehr darüber! Ich habe Euch nicht beleidigen wollen…«
»Ich weiß, dass es dich verletzt«, unterbrach ihn Proyas, »doch es muss gesagt werden: Du bist ein Gotteslästerer, Achamian. Du bist unrein. Schon deine Gegenwart allein ist ein Verstoß gegen Sein Gebot, ein Skandal. Und so sehr ich dich einmal geliebt habe – meinen Gott liebe ich mehr. Weit mehr.«
Xinemus konnte das nicht mehr ertragen. »Aber bestimmt…«
Proyas brachte den Marschall mit warnend erhobener Hand zum Schweigen. In seinen Augen standen Feuer und Leidenschaft. »Was Xin denkt, fühlt und glaubt, ist seine Sache. Doch dies, Achamian, musst du respektieren: Ich will dich nicht wieder sehen. Niemals. Hast du das verstanden?«
Nein.
Achamian sah erst Xinemus, dann wieder Nersei Proyas an.
So hätte es doch wirklich nicht laufen müssen…
»Also gut.«
Er stand unvermittelt auf und straffte sich durch, um nicht zu zeigen, wie verletzt er war. Die vom Feuer erhitzten Falten seines Gewands kribbelten auf der Haut. »Ich bitte Euch nur um eines«, sagte er schroff. »Ihr kennt Maithanet. Vielleicht traut er nur Euch allein. Fragt ihn bloß nach einem jungen Priester namens Paro Inrau, der vor ein paar Wochen in der Hagerna zu Tode gestürzt ist. Fragt ihn, ob es seine Leute waren, die ihn haben töten lassen, und ob sie wussten, dass der Junge ein Kundschafter war.«
Proyas musterte ihn mit der Ausdruckslosigkeit eines Menschen, der sich darauf einstellt, sein Gegenüber zu hassen. »Warum sollte ich das tun, Achamian?«
»Weil Ihr mich einmal geliebt habt.«
Ohne ein weiteres Wort drehte Drusas Achamian sich um und verließ die beiden adligen Inrithi, die stumm beim Feuer sitzen blieben.
Als er aus dem Zelt trat, war die Nacht stickig und roch nach Tausenden von ungewaschenen Menschen. Der Heilige Krieg.
Sie sind tot, dachte Achamian. All meine Schüler sind tot.
»Du bist mal wieder nicht einverstanden, stimmt’s?«, meinte Proyas zum Marschall. »Woran störst du dich diesmal? An der Taktik oder am Verstoß gegen die Anstandsregeln?«
»An beidem«, gab Xinemus kühl zurück.
»Verstehe.«
»Lasst die Heiligen Schriften ausnahmsweise mal außer Betracht und fragt Euch aufrichtig, Proyas, ob Ihr Euch in diesem Moment niederträchtig oder rechtschaffen fühlt.«
Ernstes Schweigen.
Dann die Antwort: »Ich fühle gar nichts.«
In dieser Nacht träumte Achamian erst von Esmenet, dann von Inrau, der ihm aus dem Großen Dunkel zurief: »Sie sind hier, alter Lehrer! Aber du kannst sie nicht sehen!«
Doch unausweichlich meldeten sich bald andere Bilder gebieterisch zu Wort und traten zu dem uralten und furchtbaren Alptraum zusammen, der das zarte Gespinst weit jüngerer und weniger wichtiger Sehnsüchte immer wieder kurzerhand zerstörte. Und schon fand Achamian sich auf den Feldern von Eleneöt wieder, wo er einmal mehr den aufs schlimmste verletzten König aus dem Schlachtgetümmel zerrte.
Die blauen Augen von Celmomas flehten ihn an. »Lass mich allein«, keuchte der graubärtige König.
»Nein… Wenn Ihr sterbt, ist alles verloren.«
Der König brachte trotz seiner arg blessierten Lippen ein Lächeln zuwege. »Siehst du die Sonne? Siehst du sie lodern, Seswatha?«
»Sie geht unter«, gab Achamian unter Tränen zurück.
»Die Nacht des Nicht-Gottes ist nicht allumfassend. Noch sehen uns die Götter, mein Freund. Sie sind fern, doch ich höre sie im Galopp über den Himmel reiten. Und ich höre sie nach mir rufen.«
»Ihr dürft nicht sterben, Celmomas! Auf keinen Fall!«
Der König schüttelte weinend den Kopf. Seine Augen wirkten erstaunlich liebevoll. »Sie rufen mich. Sie sagen, mein Tod bedeute nicht das Ende der Welt. Die Last dieser Gleichzeitigkeit, so sagen sie, liegt auf deinen Schultern, Seswatha.«
»Nein«, flüsterte Achamian.
»Siehst du die Sonne? Spürst du sie auf den Wangen? Die größten Offenbarungen sind oft in den einfachsten Dingen verborgen. Jetzt begreife ich, was für ein sturer, verbitterter Narr ich war. Und ich bin ungerecht zu dir gewesen – mehr als zu allen anderen. Kannst du einem alten Mann verzeihen? Einem dummen
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