Schattenfall
die anderen beiden sind.«
Proyas warf Achamian einen raschen Blick zu, in dem mehr Einverständnis als Ärger lag. Fast hätte er aus Begeisterung einen Fehler gemacht, und das wusste er auch. Er hätte beinahe einen Scylvendi aufgenommen – einen Scylvendi! –, ohne ihm auch nur eine einzige harte Frage zu stellen.
»Du kennst die Nansur nicht«, sagte der Barbar gerade. »Wenn ein Scylvendi den großen Ikurei Conphas ersetzt, wird das mehr als nur Gejammer und Zähneknirschen geben.«
Proyas ging über diese Bemerkung hinweg. »Eines beunruhigt mich noch immer… Gut, dein Stamm wurde vernichtet, und deine Nachbarn haben sich gegen dich gewandt – aber warum bist du hierher gekommen? Warum durchquert ein Scylvendi ausgerechnet das Kaiserreich? Warum schließt ein Heide sich einem Heiligen Krieg an?«
Bei diesen Worten schlug Cnaiürs Miene in reines Misstrauen um. Achamian sah, wie sich sein ganzer Körper anspannte. Die Tür zu etwas Furchtbarem schien entriegelt.
Dann sagte eine klangvolle Stimme im Rücken des Barbaren: »Ich bin der Grund dafür, dass er hierhergekommen ist.«
Alle betrachteten nun den namenlosen Norsirai, der trotz seiner Lumpen gebieterisch auftrat und die Miene eines Mannes hatte, der es gewohnt war, absolute Autorität auszuüben. Doch seine Züge schienen durch Kummer und Entbehrung gemildert. Die Frau, die sich an ihn klammerte, sah die Umstehenden einen nach dem anderen zornig an und schien so empört wie verblüfft über ihre prüfenden Blicke zu sein. In ihren Augen stand klar die Frage: Wie konnte euch das entgehen?
»Und wer bist du?«, fragte Proyas den Mann.
Die klaren blauen Augen des Fremden blinzelten, und er nickte mit gelassener Miene nur gerade so viel, um einen Ebenbürtigen zu grüßen. »Anasûrimbor Kellhus, Sohn des Moënghus«, sagte er auf Scheyisch, aber mit starkem Akzent. »Ich bin ein Prinz aus dem Norden, aus Atrithau.«
Achamian machte große, verständnislose Augen. Dann traf ihn der Name Anasûrimbor wie ein Schlag in den Magen und raubte ihm schier den Atem. Unwillkürlich klammerte er sich an den Arm des Proyas.
Das ist doch unmöglich.
Der Prinz warf ihm einen warnenden Blick zu, der ihm einschärfen sollte, den Mund zu halten. Du wirst schon noch dazu kommen, ihn auszuhorchen, Akka. Dann sprang sein Blick wieder zu dem Fremden zurück.
»Ein mächtiger Name.«
»Ich habe mir meine Familie nicht ausgesucht«, antwortete der Norsirai.
Einer meiner Nachkommen wird zurückkehren, Seswatha…
»Ihr seht nicht aus wie ein Prinz. Soll ich wirklich glauben, dass Ihr mir ebenbürtig seid?«
»Auch auf Eure Einschätzung meiner Person kann und will ich keinen Einfluss nehmen. Was mein Aussehen angeht, kann ich nur sagen, dass meine Wallfahrt sehr hart war.«
Ein Anasûrimbor kehrt zurück…
»Eure Wallfahrt?«
»Ja. Nach Shimeh… Wir sind gekommen, um für den Stoßzahn zu sterben.«
… doch das wird am Ende aller Tage sein.
»Aber Atrithau liegt weit jenseits des Gebiets der Drei Meere. Wie habt Ihr dort vom Heiligen Krieg erfahren können?«
Er zögerte, als wäre er im Hinblick auf das, was er nun zu sagen hatte, so ängstlich wie unsicher. »Durch Träume. Jemand hat mir Träume gesandt.«
Das ist doch ganz unmöglich!
»Wer?«
Diese Frage konnte der Mann nicht beantworten.
16. KAPITEL
MOMEMN
Wir Überlebenden werden bei der Erinnerung an seine Ankunft auch weiterhin staunen – und zwar nicht nur, weil er damals so anders war. In einem merkwürdigen Sinn hat er sich nie geändert. Wir sind es, die sich verändert haben. Wenn er uns heute so anders erscheint, dann liegt das daran, dass er die Figur war, die das ganze Spielfeld verwandelt hat.
Drusas Achamian: Handbuch des Ersten Heiligen Kriegs
MOMEMN, FRÜHSOMMER 4111
Die Sonne war gerade untergegangen. Der Mann, der sich Anasûrimbor Kellhus nannte, saß im Schneidersitz am Feuer vor einem großen Zelt, dessen Leinwandschrägen mit schwarzen Adlern bestickt waren – ein Geschenk von Proyas, wie Achamian vermutete. Kellhus war keine unmittelbar beeindruckende Erscheinung, abgesehen vielleicht vom langen strohblonden Haar, das fein wie der Pelz eines Hermelins war und hier am Lagerfeuer merkwürdig deplatziert wirkte, da es, wie Achamian fand, für die Sonne bestimmt war. Die junge, verletzte Frau, die sich am Tag zuvor so vehement an den Blonden geklammert hatte, saß neben ihm und trug ein einfaches, aber elegantes Kleid. Beide hatten
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