Schattenfall
beherrschten Cnaiür. Um sein Vorhaben, den Kaiser auszumanövrieren, festzuzurren, hatte der Prinz von Conriya sich mit den fünf Statthaltern seines Landes beraten, die dem Ruf des Stoßzahns gefolgt waren: stolze Herren allesamt, die entsprechend aufgeblasen dahergeredet hatten. Selbst den kampflustigeren Statthaltern wie Gaidekki und Ingiaban war es dabei vor allem darum gegangen, sich den anderen gegenüber ins bestmögliche Licht zu rücken, während ihnen an Problemlösungen kaum gelegen schien. Cnaiür hatte sie beobachtet und begriffen, dass alle eine kindische Version jenes Spiels spielten, dem auch die Dunyain begeistert oblagen. Worte – so hatten Moënghus und Kellhus ihn gelehrt – konnten eine ausgestreckte Hand oder eine geschlossene Faust sein, also dazu dienen, den anderen zu umarmen, oder dazu, ihn zu versklaven. Aus irgendeinem Grund hatten diese Inrithi, die voneinander nichts Handfestes zu gewinnen oder zu verlieren hatten, alle mit geschlossener Faust gesprochen, also törichte Behauptungen aufgestellt, falsche Zugeständnisse gemacht, vor Spott triefende Komplimente verteilt, im ersten Moment schmeichelhaft wirkende Unverschämtheiten gesäuselt und eine endlose Abfolge so versteckter wie ironischer Andeutungen abgelassen.
Das Ganze nannte sich Jnan, unterstrich die Zugehörigkeit zu einer gewissen Kaste und galt als Zeichen von Kultiviertheit.
Cnaiür hatte diese Farce zunächst ganz gut überstanden, doch bald – und unvermeidlich, wie ihm inzwischen schien – hatten sie begonnen, ihre Netze auch nach ihm auszuwerfen.
»Sag mal, Scylvendi«, hatte Graf Gaidekki, dem der Alkohol das Gesicht stark gerötet hatte, mutig gefragt, »zeigen deine Narben eigentlich nur, wie viele Menschen du getötet hast, oder spiegeln sie auch die Bedeutung deiner Opfer wider?«
»Wie meinst du das?«
Der Pfalzgraf von Anplei grinste. »Na ja, wenn du zum Beispiel Graf Ganyama hier links töten würdest, wäre das doch höchstens zwei Narben wert. Aber wenn du mich töten würdest?« Er sah mit gewölbten Brauen und heruntergezogenen Mundwinkeln zu den anderen rüber, als begegnete er ihren gelehrten Ansichten mit Achtung. »Wäre ich zwanzig Narben wert? Oder sogar dreißig?«
»Ich vermute«, hatte Proyas eingeworfen, »die Schwerter der Scylvendi sind große Gleichmacher.«
Darüber hatte Graf Imrotha schallend gelacht.
»Swazond«, hatte Cnaiür zu Gaidekki gesagt, »verdient man sich nicht, indem man Pfeifen, sondern indem man Feinde tötet.« Dabei hatte er den überraschten Statthalter gelassen angesehen und dann ins Feuer gespuckt.
Doch Gaidekki war nicht leicht einzuschüchtern. »Was bin ich also?«, hatte er drohend gefragt. »Feind oder Pfeife?«
In diesem Moment hatte Cnaiür noch eine weitere Plage erkannt, die ihm in den nächsten Monaten zusetzen würde. Die Gefahren und Entbehrungen des Krieges waren nichts – die hatte er sein ganzes Leben lang auf sich genommen. Die Schande, mit Kellhus zu verkehren, war ein Elend anderer Art, und er konnte es um des Hasses willen ertragen. Doch die Erniedrigung, sich Tag für Tag mit den reizbaren und weibischen Umgangsformen der Inrithi arrangieren zu müssen, hatte er nicht bedacht. Wie sehr würde er um der Rache willen noch leiden müssen?
Zum Glück war Proyas der Antwort, die Cnaiür dem Statthalter hatte geben wollen, geschickt zuvorgekommen, indem er die Beratung für beendet erklärt hatte. Der Häuptling, der zu angewidert vom Verlauf der Versammlung gewesen war, als dass er den Austausch von Abschiedssticheleien hätte ertragen können, war einfach aus dem Zelt des Prinzen getreten und in die Nacht gestapft.
Beim Gehen nun ließ er den Blick schweifen. Der Vollmond stand hell am Himmel und ließ die rasch vorbeiziehenden Wolken von hinten silbrig leuchten. Eine eigenartige Melancholie erfasste Cnaiür, und er sah hinauf zu den Sternen. Die Kinder der Scylvendi lernten, der Himmel sei ein riesiges Zelt, in das unzählige Löcher gestochen seien. Einmal hatte sein Vater zum Himmel gezeigt: »Siehst du die abertausend Lichter, Nayu, die durchs Leder der Nacht leuchten? Dadurch wissen wir, dass jenseits unserer Welt eine größere Sonne scheint, dass bei Nacht in Wirklichkeit Tag, bei Tag Nacht und die Welt eine große Lüge ist.«
Für die Scylvendi waren die Sterne eine Mahnung, dass in der Lüge nur eines echt war: die Bewohner der Steppe Jiünati.
Cnaiür blieb stehen. Die Erde unter seinen Sandalen strahlte noch die Hitze des
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