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Schattenfall

Schattenfall

Titel: Schattenfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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dieser herablassende Ton Cnaiür zornig. Sogar seine Nasenflügel bebten.
    Wie viel Erniedrigung wird er auf sich nehmen, um für den Tod meines Vaters zu sorgen?
    »Das Spiel ist nie vorbei«, beteuerte Proyas. »Es ist ohne Anfang und Ende.«
    Ohne Anfang und Ende…
     
     
    Kellhus war elf Jahre alt gewesen, als er diese Redewendung zum ersten Mal gehört hatte. Er war aus dem Unterricht zu einem kleinen Heiligtum auf der ersten Terrasse gerufen worden, wo er Kessriga Jeükal treffen sollte. Obwohl Kellhus schon Jahre daran gearbeitet hatte, seine Emotionen auf ein Minimum zu reduzieren, ängstigte ihn die Aussicht, Jeükal zu treffen, der zu den Pragma gehörte, also einer der leitenden Ordensbrüder der Dunyain war. Begegnungen zwischen solchen Männern und Novizen endeten gewöhnlich für die Letzteren unangenehm, da sie die Qualen jener durchmachen mussten, denen Aufgaben gestellt wurden, die etwas Neues offenbarten.
    Sonnenstrahlen fielen durch die Säulen des Heiligtums und hatten die Fliesen angenehm erwärmt. Draußen unter den Wällen der ersten Terrasse fuhr der Bergwind durch die Pappeln. Kellhus hielt sich im Sonnenschein auf und spürte, wie die laue Wärme durch seinen Kittel drang und auf seinem rasierten Schädel nistete.
    »Hast du deinen Durst gelöscht, wie dir geheißen war?«, fragte der Pragma, ein alter Mann, dessen ausdrucksloses Gesicht gut zum schnörkellosen Bau des Heiligtums passte. Er schien eher die Steine als den Jungen anzusehen, so leer war seine Miene.
    »Ja, Pragma.«
    »Der Logos ist ohne Anfang und Ende, junger Kellhus. Verstehst du das?«
    Die Unterweisung hatte begonnen.
    »Nein, Pragma«, antwortete Kellhus. Obwohl er noch immer unter Angst und Hoffnung litt, widerstand er schon lange der Versuchung, sein Wissen zu übertreiben. Ein Kind hat kaum eine andere Wahl, wenn seine Lehrer es durchschauen.
    »Vor Tausenden von Jahren, als die Dûnyain in diesen Bergen…«
    »War das nach den Alten Kriegen?«, unterbrach Kellhus ungeduldig. »Als wir noch Flüchtlinge waren?«
    Der Pragma schlug ihn so heftig, dass er zu Boden ging und über die Fliesen kugelte. Der Junge rappelte sich auf, stellte sich wieder dorthin, wo er gestanden hatte, und wischte sich das Blut von der Nase. Doch er spürte kaum Angst und noch weniger Reue. Der Schlag war eine Lektion gewesen, mehr nicht. Bei den Dûnyain war alles eine Lektion.
    Der Pragma betrachtete ihn ungerührt. »Andere zu unterbrechen, ist eine Schwäche, junger Kellhus. Sie rührt von den Emotionen her, nicht vom Intellekt. Sie stammt aus dem Dunkel, das aus der Vergangenheit auf uns überkommen ist.«
    »Ich verstehe, Pragma.«
    Die kalten Augen musterten ihn bis in den letzten Winkel der Seele und sahen, dass das stimmte. »Als die Dûnyain in diesen Bergen Ishuäl fanden, kannten sie erst einen Grundsatz des Logos. Wie lautete dieser Grundsatz, junger Kellhus?«
    »Dass das Vorher das Nachher bestimmt.«
    Der Pragma nickte. »Zweitausend Jahre sind vergangen, junger Kellhus, und noch immer halten wir das für wahr. Ist der Grundsatz von Vorher und Nachher, Ursache und Wirkung demnach alt geworden?«
    »Nein, Pragma.«
    »Und warum nicht? Werden Menschen nicht alt und sterben? Verwittern nicht sogar Berge und werden mit der Zeit Geröll?«
    »Doch, Pragma.«
    »Wie kann dieser Grundsatz dann nicht alt sein?«
    »Weil«, antwortete Kellhus und bemühte sich, aufflackernden Stolz zu unterdrücken, »der Grundsatz des Vorher und Nachher nicht seinerseits einem Vorher und Nachher unterworfen ist. Er ist die Basis dessen, was ›jung‹ und ›alt‹ ist, und kann deshalb nicht seinerseits jung oder alt sein.«
    »Stimmt. Der Logos ist ohne Anfang und Ende. Und doch hat das Leben des Menschen Anfang und Ende, junger Kellhus – genau wie das Leben jedes Tiers. Was unterscheidet den Menschen dann von den Tieren?«
    »Dass er zwar dem Grundsatz von Vorher und Nachher unterworfen ist, zugleich aber den Logos erfasst. Er besitzt intellektuelle Fähigkeiten.«
    »Allerdings. Und warum, Kellhus, züchten die Dunyain den Intellekt geradezu? Warum unterrichten wir kleine Kinder wie dich so gewissenhaft im Denken, aber auch im Sport und darin, die Emotionen völlig unter Kontrolle zu halten?«
    »Wegen des Dilemmas, in dem der Mensch steckt.«
    »Und in welchem Dilemma steckt er?«
    Eine Biene kam ins Heiligtum gesummt und zog mal hier, mal da ihre trägen Kreise unterm Gewölbe.
    »Darin, dass in ihm ein Tier steckt, sein Begehren aus dem

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