Schattenfall
Dunkel der Seele kommt und seine Welt ihn mit willkürlichen Umständen bestürmt, dass er aber dennoch den Logos erfasst.«
»Genau. Und wie lässt sich das Dilemma des Menschen lösen?«
»Dadurch, dass er sich vom tierischen Begehren befreit, die Entwicklung seiner Lebensumstände völlig unter seine Kontrolle bringt, das vollkommene Werkzeug des Logos ist und so das Absolute erreicht.«
»Ja, junger Kellhus. Und bist du ein vollkommenes Werkzeug des Logos?«
»Nein, Pragma.«
»Und warum nicht?«
»Weil ich von Emotionen gequält werde. Ich bin, was ich denke, doch die Ursprünge meines Denkens reichen in die Vergangenheit zurück. Wegen des Dunkels, das auf mich überkommen ist, bin ich nicht Herr im eigenen Haus.«
»So ist es, mein Kind. Und wie nennen wir die dunklen Ursprünge des Denkens?«
»Die Legion. Wir nennen sie die Legion.«
Der Pragma hob die gelähmte Hand, als wollte er zeigen, dass sie an einer entscheidenden Station ihrer Pilgerreise waren. »Ja. Du bist drauf und dran, junger Kellhus, das schwierigste Stadium deiner Initiation zu beginnen und die Beherrschung der Legion in deinem Innern zu erlernen. Nur dadurch wirst du das Labyrinth überleben können.«
»Wird mich das in die Lage versetzen, das Problem der Hunderttausend Gänge zu lösen?«
»Nein. Doch es wird dir möglich machen, deine Fragen korrekt zu stellen.«
Irgendwo nahe der höchsten Erhebung der Andiamin-Höhen kamen sie durch einen mit Elfenbein getäfelten Flur und befanden sich dann im Nu im Privatgarten des Kaisers.
Zwischen den gepflasterten Wegen war der Rasen weich, makellos und da und dort vom Schatten diverser Bäume verdunkelt, die wie Speichen um einen runden Teich im Herzen des Gartens angeordnet waren, der die Form der Kaiserlichen Sonne hatte. Hibiskus, Lotusbaum und duftende Sträucher drängten sich auf Beeten, die entlang der Wege angelegt waren. Kellhus sah Kolibris im Sonnenlicht von Blüte zu Blüte flattern.
Während die öffentlich zugänglichen Bereiche der kaiserlichen Palastanlagen die Besucher durch Größe und Pomp beeindrucken sollten, war der Privatgarten – wie Kellhus sofort sah – dazu gedacht, eine intime Atmosphäre zu schaffen und auswärtige Würdenträger spüren zu lassen, dass ihnen hier ein Geschenk gemacht wurde: das des vertraulichen Umgangs mit dem Kaiser nämlich. Dies war ein Ort von schlichter Eleganz, und man sollte das Gefühl bekommen, ein im Kern bescheidener Regent habe dieses traute Gartenrefugium erschaffen.
Unter Zypressen- und Tamariskenbäumen war der Hochadel der Inrithi aus Galeoth, Ce Tydonn, Ainon, Thunyerus und sogar dem Kaiserreich versammelt und stand gruppenweise um eine Bank herum, auf der normalerweise der Kaiser saß. Obwohl sie prachtvolle Gewänder trugen und unbewaffnet waren, sahen die Männer Soldaten ähnlicher als Höflingen. Halbwüchsige Sklaven mit nackter Brust und ölschimmernden Beinen strichen zwischen ihnen herum und boten Wein und verschiedene Leckereien an. Mancher Trinkspruch wurde ausgebracht, mancher Kelch gekippt, und hier und da wischte sich einer die fettigen Finger an Seide oder Musselin ab.
Die Anführer des Heiligen Kriegs – an einem Ort beisammen.
Ich vertiefe meine Untersuchung immer mehr, Vater.
Als sie näher kamen, wandte sich ihnen mancher Kopf zu, und manches Gespräch verstummte. Einige entboten Proyas einen Gruß, die meisten aber starrten Cnaiür an und verstärkten dies dreiste Mustern noch, als sie merkten, dass auch ihre Nachbarn den Ankömmling mit unverhohlener Neugier begafften.
Proyas hatte – wie Kellhus wusste – entschlossen verhindert, dass auch nur einer der Hohen Herren Cnaiür traf, und dem Dunyain war auch klar, warum: um jetzt am längeren Hebel zu sitzen. Die Mienen ringsum zeigten, wie klug diese Entscheidung gewesen war. Obwohl Cnaiür wie ein Inrithi gekleidet war und eine weiße Tunika aus Leinen unter einem knielangen grauen Seidenmantel trug, strahlte er ungebändigte Kraft aus. Sein von zahllosen Kämpfen gezeichnetes Gesicht; die kräftige Gestalt, die eisernen Glieder und diese Hände, die einem mühelos das Genick brechen konnten; die Swazond und seine Augen, die kalten Topasen ähnelten – alles an ihm zeugte entweder von Mordtaten oder bekundete mörderische Absichten.
Die meisten Inrithi waren beeindruckt. Kellhus entdeckte bei ihnen ehrfürchtige Scheu, Neid und sogar nackte Gier. Hier war endlich mal ein echter Scylvendi zu sehen, und es schien, als würde sein Anblick
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