Schattenfall
Achamian fort, »gibt es wirklich keinen geeigneteren Orden als die Scharlachspitzen, um…«
»Der hassenswerteste Orden ist das!«, protestierte Inrau.
Esmenet wusste, dass die Scharlachspitzen den Mandati besonders verhasst waren. Achamian hatte ihr einmal erzählt, kein Orden missgönne den Mandati den Besitz der Gnosis so sehr wie dieser.
»Für den Stoßzahn sind alle Orden gleichermaßen widerlich«, antwortete Achamian. »Maithanet hat seinen Annäherungsversuch offensichtlich aus strategischen Gründen unternommen. Es heißt, der Kaiser bemühe sich bereits, den Heiligen Krieg zum Instrument seiner Rückeroberungspläne zu machen. Indem er sich mit den Scharlachspitzen verbündet, ist Maithanet aber nicht auf die kaiserlichen Ordensleute angewiesen. Stell dir mal vor, was das Haus Ikurei aus seinem Heiligen Krieg machen würde.«
Der Kaiser. Kaum hatte Achamian ihn erwähnt, blickte Esmenet auf die zwei Kupfermünzen auf dem Tisch. Die eine lag schief auf der anderen, doch beide zeigten das Profil von Ikurei Xerius III. dem Kaiser von Nansur. Ihrem Kaiser. Wie für alle Einwohner Sumnas war der Gedanke an Xerius III. auch für Esmenet eigentlich nie mit der Vorstellung verbunden, er sei ihr Herrscher – und das, obwohl seine Soldaten ihr doch fast so viele Freier eintrugen wie die Priester der Tausend Tempel. Sie vermutete, der Tempelvorsteher war an seinem Amtssitz Sumna einfach viel dominanter als der in weiter Ferne residierende Kaiser. Andererseits bedeutete ihr aber sogar der Tempelvorsteher kaum etwas. Ich bin einfach zu winzig, dachte sie.
Dann kam ihr eine Frage in den Sinn.
»Ist der springende Punkt nicht ein anderer?«, begann sie, zögerte einen Moment lang, als die beiden Männer sie seltsam ansahen, und fuhr dann fort: »Sollte man sich nicht fragen, warum die Scharlachspitzen Maithanets Angebot angenommen haben? Was hat einen Orden dazu bringen können, einem Heiligen Krieg beizutreten? Das ist doch ein sehr merkwürdiges Gespann, oder? Vor kurzer Zeit erst, Akka, hast du noch befürchtet, den Orden werde der Krieg erklärt.«
Es war einen Augenblick still. Inrau lächelte, als amüsierte er sich über seine eigene Dummheit. Esmenet spürte, dass er sie von nun an in diesen Fragen gleichberechtigt behandeln würde. Achamian hingegen würde sich abseits halten und den Richter in allen strittigen Fragen geben. So gehörte es sich angesichts seines Berufs ja vielleicht auch.
»Es gibt sogar eine Reihe von Gründen, warum sie Maithanets Offerte akzeptiert haben«, sagte Achamian schließlich. »Bevor ich Carythusal verließ, erfuhr ich, dass die Scharlachspitzen seit langem einen geheimen Krieg gegen die Hexenpriester der Fanim führen, also gegen die Cishaurim – seit zehn bitteren Jahren.« Er biss sich kurz auf die Lippe. »Aus irgendeinem Grund haben die Cishaurim Sasheoka ermordet, den damaligen Hochmeister der Scharlachspitzen. Sein Schüler Eleäzaras ist sein Nachfolger geworden. Es gibt Gerüchte, wonach er Sasheoka überaus nahe gestanden hat…«
»Dann hoffen die Scharlachspitzen also darauf…«, begann Inrau.
»… sich zu rächen und so den geheimen Krieg zu beenden«, führte Achamian den Satz seines Schützlings fort. »Aber das ist noch nicht alles. Kein Orden durchschaut die Hexerei der Cishaurim, die sogenannte Psukhe, und selbst die Mandati sind äußerst beunruhigt darüber, dass die magischen Praktiken der Cishaurim nicht zu erkennen sind.«
»Warum beunruhigt euch das denn so sehr?«, fragte Esmenet. Das war nur eine der vielen kleinen Fragen, die sie sich früher nie zu stellen getraut hatte.
»Warum?«, wiederholte Achamian. Er war plötzlich sehr ernst geworden. »Das fragst du nur, weil du keine Vorstellung von unserer Macht hast, Esmenet. Und keine blasse Ahnung, wie unverhältnismäßig diese Macht im Hinblick auf die Gebrechlichkeit unseres Körpers ist. Sasheoka wurde gerade darum ermordet, weil er die Machenschaften der Cishaurim nicht vom Walten Gottes zu unterscheiden wusste.«
Esmenet zog ein finsteres Gesicht und wandte sich an Inrau: »Macht er das bei dir auch?«
»Was? An Fragen rummeckern, statt sie zu beantworten?«, gab Inrau trocken zurück. »Das macht er dauernd.«
Doch Achamians Miene verfinsterte sich. »Hört mir mal gut zu. Das hier ist kein Spaß. Jeden von uns – vor allem aber dich, Inrau – kann es erwischen. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass wir bei lebendigem Leib in kochendem Wasser gebrüht, dann geteert und
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