Schattenfeuer
einen Freund zu haben, ganz gleich, wie... Ich meine, ich wußte nicht... Ich bin sicher, daß...« Sie brach ab, machte Anstalten aufzustehen, dachte dann daran, daß sich Gavis vielleicht lieber setzte -und kam sich wie eine Närrin vor.
Whitney lachte erneut und berührte sie am Arm. »Entspannen Sie sich, Mädchen. Ich bin nicht beleidigt. Nun, bis her habe ich noch nie jemanden kennengelernt, der weniger Wert auf Äußerlichkeiten legt als Ben. Er beurteilt einen danach, was man leistet -nicht nach dem Aussehen. Typisch für ihn, daß er Sie nicht auf meine... Besonderheiten hinwies. Der Ausdruck >Körperbehinderung< gefällt mir nicht sonderlich. Wie dem auch sei: Sie haben allen Grund, erstaunt zu sein, Mädchen.«
»Ich schätze, Ben blieb nicht genug Zeit, um davon zu sprechen -selbst wenn er daran gedacht hätte«, antwortete Rachael und nahm nicht wieder Platz. »Ich mußte ziemlich überstürzt aufbrechen und ihn zurücklassen.«
»Ist alles in Ordnung mit ihm?« fragte Whitney.
»Das weiß ich nicht.«
»Wo befindet er sich jetzt?«
»Ich hoffe, er ist hierher unterwegs. Aber ganz sicher bin ich mir nicht.«
Plötzlich mußte sie daran denken, daß auch ihr Benny in diesem Zustand aus dem Krieg in Vietnam hätte heimkehren können: mit zernarbten Gesicht, ohne die linke Hand, das linke Bein zerfetzt - eine entsetzliche Vorstellung. Seit Montagabend, als es Shadway gelungen war, Vince Baresco zu entwaffnen und seine Combat Magnum an sich zu nehmen, hatte sie sich ihn mehr oder weniger unbewußt als einen unbezwingbaren und im Grunde genommen unbesiegbaren Mann vorgestellt, der nie verzagte, der immer einen Ausweg fand. Sie machte sich nach wie vor Sorgen um ihn, wollte jedoch daran glauben, daß ihm gar nichts zustoßen konnte, weil er zu zäh und klug war. Doch als sie jetzt sah, was der Krieg aus Whitney Gavis gemacht hatte, begriff sie endlich, daß auch Benjamin Shadway keinen magischen Schutzpanzer trug, der ihn vor Verletzungen -und dem Tod - bewahrte. Und diese Erkenntnis erfüllte sie mit jäher Angst.
»He, geht es Ihnen nicht gut?« fragte Whitney.
»Ich... ich bin nur erschöpft«, erwiderte Rachael mit zittriger Stimme. »Und ich mache mir Sorgen.«
»Ich möchte alles wissen. Erzählen Sie mir die ganze Geschichte.«
»Das braucht seine Zeit.« Rachael sah sich um. »Und dies ist nicht der geeignete Ort.«
Whitney nickte. »Da haben Sie völlig recht.«
»Wir vereinbarten als Treffpunkt das Golden Sand.«
»Das Motel? Ja, gute Idee. Ein ausgezeichnetes Versteck. Bietet zwar nicht gerade Erste-Klasse-Komfort...«
»Darauf kann ich verzichten.«
Gavis hatte seinen Wagen ebenfalls von einem Hotelbediensteten parken lassen und gab dem Mann sowohl seine Quittung als auch die Rachaels.
Jenseits des hohen und breiten Vordachs strömte der Regen durch die Nacht. Das Gewitter war weitergezogen, und es flackerten keine Blitze mehr. Aber die Myriaden Tropfen des Wolkenbruchs blieben trotzdem nicht anonym: Sie erschimmerten im Widerschein der bernsteinfarbenen und gelben Lichter neben dem Eingang des Grand, was den Anschein erweckte, als lege sich eine goldene Patina auf die nahe Straße.
Whitneys Wagen, ein fast neuer Karmann Ghia, wurde zu erst gebracht, und nur wenig später rollte auch der schwarze Mercedes heran. Obgleich Rachael wußte, daß sie Aufsehen erregte, sah sie zunächst im Fond und Kofferraum des Wagens nach, bevor sie sich ans Steuer setzte und losfuhr. Tief in ihrem Innern wußte sie, daß sie sich irrational verhielt. Eric war tot - oder hatte sich inzwischen endgültig in ein Tier verwandelt, das die Wüste durchstreifte, rund hundertfünfzig Kilometer von ihr entfernt. Es schien geradezu absurd zu sein anzunehmen, er habe es irgendwie geschafft, nach Las Vegas zu gelangen und sich erneut im Gepäckfach des schwarzen Mercedes zu verstecken. Dennoch sah Rachael nach -und fühlte sich zutiefst erleichtert, als sie keine Spur von dem lebenden Toten fand.
Sie folgte Whitneys Karmann Ghia auf den Flamingo Boulevard, und von dort aus ging die Fahrt nach Osten weiter, in Richtung des Paradise Boulevards. Schließlich wandten sie sich nach Süden und erreichten kurz darauf das Golden Sand Inn.
Trotz der Nacht und des strömenden Regens wagte es Eric nicht, über den Las Vegas Boulevard South zu fahren, die barock wirkende Straße, die die Einheimischen als Strip bezeichneten. Acht bis zehn Stockwerke hohe Leuchtreklamen erhellten die Dunkelheit mit einem flackernden und
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