Schattenfeuer
dann nicht auf, wenn die Ermittlungen ins Stocken gerieten, wenn sich keine Hinweise oder neuen Spuren fanden, die eine baldige Identifizierung des Straftäters in Aussicht stellten. Er war entschlossen, nachgerade verbissen. Manchmal sagte er: »Reese, ich fühle mich diesem Opfer verpflichtet, weil es so jung war, weil es keine Möglichkeit hatte, das Leben kennenzulernen. Es ist einfach nicht fair . Ich könnte aus der Haut fahren!« Dann wieder meinte er. »Reese, dieser Fall hat deshalb eine ganz besondere und spezielle Bedeutung für mich, weil das Opfer so alt war, so alt und hilflos. Und wenn keine zusätzlichen Anstrengungen unternommen werden, um die älteren Bürger zu schützen, ist diese Gesellschaft krank.« Julio fühlte sich betroffen, wenn das Opfer hübsch war, wies darauf hin, welch eine Tragödie es sei, Schönheit zu vernichten. Doch er konnte auch aus der Haut fahren , wenn es sich um einen häßlichen Toten handelte, beklagte dann die Nachteile, mit denen es solche Leute im alltäglichen Leben zu tun bekamen. Diesmal vermutete Reese, daß sich Julios »besondere Verpflichtung« Ernestina gegenüber auf die Ähnlichkeit ihres Namens mit dem seines verstorbenen Bruders gründete. Die sture Entschlossenheit Julio Verdads machte keine starke Stimulierung notwendig. Der geringste Anlaß genügte. Das Problem war folgendes: Julio verfügte über ein so großes Reservoir an Mitgefühl, daß er oftmals Gefahr lief sich darin zu verlieren.
Julio saß wie erstarrt am Lenkrad und schlug sich immer wieder mit der Faust auf den Oberschenkel. »Ganz offensichtlich gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Diebstahl von Eric Lebens Leiche und dem Tod der beiden Frauen. Aber was für einen? Brachte der Leichendieb Ernestina und Becky um? Und warum? Warum nagelte er die Klienstad an der Wand in Mrs. Lebens Schlafzimmer? Das ist doch grotesk!«
»Denk nicht mehr darüber nach«, sagte Reese.
»Und wo ist Mrs. Leben? Was weiß sie von dieser ganzen Angelegenheit? Als ich sie befragte, spürte ich deutlich, daß sie etwas vor mir verbarg.«
»Julio...«
»Außerdem: Warum wird diese Sache zu einem Problem der nationalen Sicherheit? Warum erfordert sie das Eingreifen Anson Sharps und seiner verdammten Defense Security Agency?«
»Laß es gut sein«, brummte Reese - obgleich er wußte, wie sinnlos der Versuch war, Julios Gedanken in eine andere Richtung zu lenken.
Nicht mehr ganz so wütend fuhr Verdad fort: »Vielleicht hat dies alles etwas mit der Arbeit zu tun, die Eric Lebens Unternehmen für die Regierung erledigte. Irgendein Projekt mit militärischer Bedeutung...«
»Du willst nicht aufgeben und weiter herumschnüffeln, oder?« warf Reese ein. »Ich sagte es ja schon: Ich fühle mich der armen Ernestina verpflichtet.« »Mach dir keine Sorgen. Bestimmt finden Sharp und seine Leute ihren Mörder.«
»Sharp? Soll ich mich etwa auf ihn verlassen? Der Kerl ist doch ein Idiot. Hast du seine Aufmachung gesehen?« An Ju lios Kleidung gab es natürlich nie etwas auszusetzen. »Die Ärmel seiner Anzugjacke waren rund zwei Zentimeter zu kurz, und offenbar putzt er seine Schuhe nicht häufig genug.
Sie sahen aus, als hätte er gerade eine längere Wanderung hinter sich. Wie soll der Blödmann Ernestinas Mörder finden, wenn er nicht einmal in der Lage ist, seine Schuhe in Ordnung zu halten?«
»Ich sehe das aus einer anderen Perspektive, Julio. Ich glaube, man wird uns das Fell über die Ohren ziehen, wenn wir nicht die Finger von diesem Fall lassen.«
»Ich bin nicht bereit, jetzt einfach die Hände in den Schoß zu legen«, erwiderte Verdad fest. »Ich mache weiter. Bis ich weiß, was gespielt wird. Aber du kannst aussteigen, wenn du möchtest.«
»Ich bleibe bei dir.«
»Ich setze dich nicht unter Druck.«
»Trotzdem«, beharrte Reese.
»Es ist nicht nötig, daß du mir einen persönlichen Gefallen erweist.« »Wenn du am Ball bleibst, trifft das auch auf mich zu. Und damit hat sich's.«
Vor fünf Jahren hatte Julio Verdad außergewöhnlichen Mut bewiesen und das Leben von Esther Susanne Hagerstrom gerettet, Reeses einzigem Kind. In der Welt Reese Hagerstroms gab es einen zentralen Mittelpunkt: seine Tochter. Sie war der Inhalt seines Lebens. Und Julio hatte einen Mann getötet und zwei andere angeschossen, um sie vor dem Tod zu bewahren. Aus diesem Grund wäre Reese eher bereit gewesen, eine Erbschaft von einer Million Dollar abzulehnen, als seinen Partner im Stich zu lassen.
»Ich komme auch allein
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