Schattenfluch: Druidenchronik. Band 3 (German Edition)
Beobachters nicht mehr als Rattenmensch enthüllen.
Colts Wohnung befand sich in Laksevåg, einem Stadtteil westlich des Zentrums, getrennt von ihm nur durch den Puddefjord. An seinem Ufer lagen mehrere große Stahlfabriken und verpesteten mit ihren Abgasen die gesamte Gegend. Zusammen mit den direkt benachbarten Fischfabriken führten sie dazu, dass der Stadtteil größtenteils von der armen Arbeiterschaft bewohnt wurde. Heute war jedoch all der Müll und Dreck unter einer dicken Schneeschicht verschwunden. Die Plattenbauten wirkten weniger grau, der Qualm aus den Fabrikschloten schien weniger schwarz. Tagsüber fiel auch nicht auf, dass kaum eine Straßenlampe funktionierte, dass viele Familien kein Geld für Strom übrig hatten und mit mehr oder weniger offenen Feuern ihre Wohnung beleuchteten.
Mickey fühlte sich hier fast heimisch. Er selbst stammte aus Minde im Süden des Stadtteils Årstad, wo den städtischen Statistiken zufolge noch weniger Leute Arbeit hatten als in Laksevåg. Unter den Kindern und Jugendlichen bestand deshalb schon seit Menschengedenken eine Rivalität zwischen den beiden Stadtvierteln, die sich oft genug in Schlägereien und Bandenkriegen entlud. Selbst die Straßengangs bekämpften sich, wann immer sie konnten, trotz der Führung durch Schatten und Rattenmenschen. Jeder Mensch brauchte jemanden, auf den er herabblicken konnte – die Bewohner Mindes und Laksevågs erfüllten sich diesen Zweck gegenseitig.
Colts Wohnung lag im siebten Stock eines besonders schäbigen Plattenbaus. Der Aufzug war selbstverständlich kaputt, weshalb Mickey nichts anderes übrig blieb, als das graffitiverschmierteTreppenhaus zu nehmen. Es stank nach Pisse und Zigarettenrauch, was ihn daran erinnerte, dass er den ganzen Tag noch nicht geraucht hatte. Auf dem Boot hatte gestern ein Raucher einen Feueralarm ausgelöst, weshalb die Stewards plötzlich damit begonnen hatten, das Rauchverbot durchzusetzen. Mickey kramte eine Zigarette aus der Innentasche seiner Regenjacke und zündete sie an, während er die Treppe nach oben stieg.
Im Flur wurde der Gestank sogar noch schlimmer. Vor einer Tür stapelten sich mehrere rattenzerfressene Müllsäcke, eine andere war aufgebrochen und gab den Blick frei auf eine verwüstete Wohnung. Der Eingang zu Colts Wohnung war verschlossen, doch dieses Mal hatte Mickey vorgesorgt: Er hatte aus Oslo auch ein nagelneues Set Dietriche mitgebracht, das ihm binnen fünf Minuten die Tür öffnete. Einmal mehr dachte er,
Sugar wäre schneller gewesen
, und hasste sich dafür.
Die Wohnung dahinter wirkte leer und verlassen. Im Eingang hingen ein Anorak und eine Gang-Lederjacke der
Hearts of Pain
, die das Rudel Colt als Willkommensgeschenk gemacht hatte. Der junge Rattenmensch hatte sie nie getragen. Ein Paar Springerstiefel mit bunten Schuhbändeln lag unter einem Telefonschrank, auf dem das Telefon fehlte. Die Tür zum Bad stand offen. Aus dem Duschkopf tropfte es verloren in eine Pfütze darunter. Von den Handtuchhaken an einer Wand waren die meisten abgerissen. Zu Mickeys Überraschung war der Spiegel jedoch noch intakt, so wie es aussah, nachträglich eingebaut.
Er schmunzelte. War Colt etwa eitel?
Nachdenklich ging er weiter in den Wohnraum. Die Schlafcouch war flach gestellt und mit einem Laken bespannt. Die Bettdecke lag schlampig darauf, das Kopfkissen war nach vorne zwischen die Couch und den Einbaukleiderschrank gefallen. Auf dem Tisch waren fein säuberlich auf einem weiß-karierten Geschirrtuch Teller und Gläser zum Trocknen aufgereiht. An den Wänden hing vergilbte Tapete. Auf dem Schreibtisch standen neben dem Fernseher mehrere gerahmte Fotos, darunter ein Ehepaar in mittleren Jahren und ein gar nicht schlecht aussehendesMädchen etwa in Colts Alter. Mickey stellte erschrocken fest, dass sie Colts Gesichtszüge trug – große braune Augen, ein mädchenhaftes Kinn, das ihr naheliegenderweise besser stand als ihm, starke Wangenknochen.
Mickey öffnete das Fenster, um die abgestandene Luft im Raum mit dem Industriegestank von draußen zu durchmischen. Dann nahm er das Bild vom Schreibtisch und sah es nachdenklich an. Ja, das war wirklich Colt. Colt als Mädchen. Hatte der Junge etwa eine Schwester? Wie konnte Mickey einen Mann in seinem Rudel haben, ohne zu wissen, dass er eine Schwester hatte? Oder Eltern, mit denen er offenbar noch immer eine Art von Kontakt pflegte? Zugegeben, es herrschte Krieg, und Colt war auch erst ein halbes Jahr dabei, aber trotzdem …
Er
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