Schattenfluch: Druidenchronik. Band 3 (German Edition)
von Leuk im Norden und Lucerna Nova im Süden, von Lomus im Westen und den kleinen Siedlungen des Rondane im Osten, und versuchten, ihre Waren an den Mann zu bringen. Einige Händler aus Åndalsnes waren hier und trieben ihre Geschäfte, als ob nichts passiert wäre, und tatsächlich hatte Häuptling Cintorix auch einer Handvoll Fernhändlern aus Oslo und Trondheim den Zutritt zur Stadt genehmigt, misstrauisch beäugt von den Gardisten in ihren roten Wämsern. Nur die Weiterreise war ihnen verboten, so dass hier Händler aus dem Norden mit Händlern aus dem Süden um Waren und Preise feilschten. Helvetica Magna war zum Umschlagszentrum für den Handel zwischen jenen großen Städten geworden, insbesondere da der Seeweg offenbar noch immer durch den Dämon abgeschnitten war. Dazu kam eine Truppe aus etwa einem Dutzend Gauklern, die mit zwei hölzernen Wägen angereist war und ein kleines Spektakel vollführte, das die Blicke sämtlicher Kinder und einiger Erwachsener auf sich gezogen hatte. Keelin würde es nicht wundern, wenn auch der ein oder andere Taschendieb in der Menge unterwegs wäre.
Kurzum – die Stadt war so unübersichtlich, wie man es sich nur wünschen konnte. Es konnte keinen besseren Zeitpunkt für den Diebstahl des Buches geben als heute. Die Ablenkung war bereit und würde sich unaufhaltsam am frühen Nachmittag ereignen, um die Stadt vollends in Chaos zu stürzen.
Nur Wolfgang fehlte.
Die Garde hatte ihn erwischt, am Mittwoch, gleich nach der Audienz. Zuerst hatte Keelin geglaubt, dass der Sachse den Gardisten entkommen war. Doch als er am Morgen danach an ihrem Treffpunkt am Nordtor nicht erschienen war, hatte Keelin Schlimmstes befürchtet, eine Befürchtung, die sich bestätigte, als ihn die Garde um die Mittagszeit auf dem Pranger vorführte. Sie suchten auch nach Keelin, doch sie würden sie nicht finden. Zumindest rechnete sie nicht damit – die Gardisten suchten nach einer matronenhaften Frau mit üppigen Formen und Haaren auf dem Kopf, während Keelin schon längst ihre Verkleidung abgelegt hatte und nun einen dürren, glatzköpfigen Stalljungen spielte. Nicht einmal Wolfgang hatte sie erkannt, als sie am Pranger vorbeimarschiert war und ihn wie hundert andere auch mit Pferdemist beworfen hatte. Sie hatte erhofft, irgendein Signal von ihm zu erhalten – ein kurzes Lächeln vielleicht, ein Augenzwinkern –, das ihr sagte, dass er sich noch nicht aufgegeben hatte. Doch er hatte nicht reagiert, hatte durch sie hindurchgesehen, als ob sie gar nicht existieren würde. Und vielleicht war dem nun auch so, gehörte der Jarl doch nun einer anderen Realität an, einer Realität aus Folter und Schmerz, in der der Ausflug auf den Pranger der Stadt wirken musste wie ein absurder Traum.
Es war die Ironie des Schicksals, dass Wolfgang eine Verkleidung für Keelin als notwendig erachtet hatte, weil Cintorix sie schon einmal gesehen hatte, und nun selbst erkannt worden war. Keelin hatte sich dazu Gedanken gemacht, sich gefragt, ob ihre Mission an irgendeiner Stelle an den Feind verraten worden war. Doch die Wahrscheinlichkeit war größer, dass Wolfgang in der kurzen Periode des Friedens zwischen dem Germanenaufstand und dem Fall Trollstigens von einigen Helvetiern in Åndalsnes gesehen worden war. Ein dummer Fehler, geradezu töricht in seiner Einfachheit. Aber Wolfgang war so davon überzeugt gewesen, auf keiner seiner Missionen je erkannt worden zu sein, dass er nicht daran gedacht hatte, dass er als der Geliebte der Fürstin und einer von vier Jarlen in Åndalsnes ein sehr auffälliger Mann gewesen war.
Und jetzt war er Gefangener der Spinne. Längst hatte sie herausgefunden, was das bedeutete. Ein Schauer lief über Keelins Rücken.
Es bedeutete Erniedrigung.
Es bedeutete Folter.
Am Freitag hatten sie damit angefangen. Von einer Gruppe Kinder hatte Keelin – mehr oder weniger unfreiwillig – davon erfahren, dass es einen Abfluss gab, das von dem Verlies unter dem Rathaus direkt zum Fluss führte. Dort hatten sie sich versammelt und lauschten den Schreien der Gefolterten. Früher hatte offenbar eine Gardepatrouille hin und wieder vorbeigesehen und die Lauschenden vertrieben, doch seit dem Verrat des Häuptlings scherte sich niemand mehr darum. Keelin hatte sich zu den Jungen gesetzt und mit angehört, wie sich Wolfgang mit merkwürdig verzerrter Stimme die Seele aus dem Leib geschrien hatte.
Das Wissen, dass Wolfgang tatsächlich gefangen und nicht etwa getötet war, hätte sie beinahe
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