Schattenfluch: Druidenchronik. Band 3 (German Edition)
stark wie eh und je. Doch dieses Mal fühlte sich Derrien nicht erfrischt von der Energie, die ihn durchströmte. Dieses Mal fühlte er sich verbrannt, ließ sie nur widerwillig durch seinen Körper fließen. Er wusste auch, woran es lag. Er fühlte sich unwürdig.
»Wissen die Schatten von diesem Durchgang?«, erkundigte sich Ivar emotionslos.
»Bisher noch nicht.« Häuptling Nerin hatte hier kurz vor seinem Tod ein ganzes Rudel Jungschatten hergeführt, um sie vonder Magie des Wächtergeists vernichten zu lassen, doch nachdem keiner von ihnen lebend davongekommen war, um darüber zu berichten, war ihr Geheimnis wahrscheinlich noch sicher.
Ivar brummte zur Antwort in seinen Bart hinein. Als Derrien weiterging, an der Felsenklippe vorbei auf die Weißtanne zu, um in die Außenwelt zu wechseln, rief ihm der Jarl zu seiner Überraschung hinterher: »Der Wald wird angreifen, Derrien.«
Derrien blieb zähneknirschend stehen. »Wenn Ihr mich zum Narren halten wollt, Jarl Ivar, will ich Euch sagen, dass dies gänzlich der falsche Zeitpunkt dafür ist.« Immerhin hatte der Wald die Bedingung gestellt, dass die Waldläufer bewiesen, schlagkräftig genug zu sein, um tatsächlich etwas gegen die Nain ausrichten zu können. Das Desaster von heute war eher ein Beweis des Gegenteils, ganz abgesehen davon, dass mit dem Verlust so vieler Männer die Schlagkraft der Waldläufer sowieso hinüber war.
»Ich habe die Magie in dem Baum gespürt«, erklärte Ivar, als ob das eine Antwort wäre.
»Welchem Baum?«
»Dem Baum auf dem Marktplatz.«
Derrien verzog grimmig das Gesicht. »Und?«
»Es ist eine sehr, sehr düstere Magie. Sie wird Wald nicht gefallen.«
»Und deshalb will er angreifen?«
»Ich bin davon überzeugt.«
Derrien nickte. Er wusste nicht, ob ihm das tatsächlich viel weiterhelfen würde. Mit bitterer Miene wünschte er sich, dass der Wald schon vor dieser Nacht zu dem Entschluss gekommen wäre.
WOLFGANG/KEELIN (3)
Sicheres Haus der Fallschirmjäger, Sunndalsøra, Norwegen
Samstag, 11. Dezember 1999
Die Außenwelt
Die Landkarte war zerlesen und alt. An den Faltungen war das Papier zerschlissen, so dass Norwegen in regelmäßigen Abständen von weißen Linien unterbrochen wurde. Die Farben waren vergilbt, die Straßen hatten sich seither geändert, die Städte waren größer geworden. Viele der kleinen Nester waren heute nur noch Geisterstädte, von denen die letzten Bewohner längst geflohen waren, dahin, wo es Arbeit gab und eine Zukunft.
Nichts davon war für Wolfgang relevant. Ihn interessierte die Innenwelt, wo keine dieser Veränderungen Belang hatte. Er interessierte sich für die Täler, die Höhenlinien, die Flüsse, die Fjorde. Er führte Krieg in diesem Land, zumindest im Kopfe, war ein Sandkastengeneral, der Kaugummi kauend über den Ernstfall nachdachte.
Der Ernstfall war ein Angriff auf Åndalsnes und Helvetica Magna. Das hatte er längst mit den Herren von Trondheim und Oslo besprochen. Die Schatten waren zu stark geworden, viel zu gefährlich, sie mussten zurückgedrängt werden, bevor sie noch mächtiger werden konnten. Oslo war bereit, ein Heer aufzustellen und damit Cintorix anzugreifen. Trondheims Armee aus dem Herbst war noch nicht einmal aufgelöst, der dortige Fürst war so scharf auf einen Krieg, dass er seine Truppen am liebsten noch im Winter schicken würde. Angeblich hatte er Wettergeister und Pfadfinder in Hülle und Fülle in seinen Reihen und wartete nur auf einen geeigneten Zeitpunkt.
Wolfgang seufzte. Er wusste selbst nicht, weshalb die beiden Fürsten so erpicht auf seine Meinung waren. Sie hatten ihreKundschafter, ihre Händler, ihre Spione, von denen sie Informationen über Truppenstärke und Vorbereitungen aus den feindlichen Landen erhielten, und trotzdem sahen sie beide zu ihm und hofften, dass er ihnen das Signal zum Angriff gab. Vermutlich wussten sie von seinem Ruf als Kundschafter und erwarteten, dass er sich noch einmal persönlich dort umsah. Doch damit würde Wolfgang warten, bis Uirolec mit seiner Übersetzung fertig war – vielleicht würden seine Kundschafterfähigkeiten für wichtigere Zwecke gebraucht. Bis dahin konnte er wenig tun, außer Karten zu studieren und sich bestens darauf vorzubereiten.
Keelin saß neben ihm am Küchentisch und hatte ein Buch im Schoß liegen. Es war ein Lesebuch für die deutsche Sprache, sehr einfach gehalten für eine fünfte oder sechste Klasse, die gerade mit dem Deutschunterricht begonnen hatte. Sie kam
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