Schattenfluegel
sich, was sie hier eigentlich tat. Im Grunde kannte sie Lukas ja kaum. Warum meinte er, ihr seine kranke Mutter vorstellen zu müssen? Und warum, verdammt noch mal, hatte sie nicht vorher darauf bestanden zu erfahren, wohin er sie brachte?
Die Antwort auf die letzte Frage gab sie sich sofort selbst: Weil sie glücklich darüber war, mit Lukas zusammen zu sein. Weil es ihr völlig egal gewesen war, wohin er mit ihr fuhr, solange er nur bei ihr war.
Als er jetzt die Tür öffnete, war sein Kiefer immer noch angespannt, aber in seinen Augen stand ein warmes Leuchten. Er freute sich darauf, seine Mutter zu sehen, das war deutlich zu erkennen.
»Mom?« Direkt hinter der Tür blieb Lukas stehen.
Niemand antwortete ihm.
»Mom, ich habe Kim mitgebracht, wie ich es dir versprochen habe.« Er trat zur Seite und bedeutete Kim, ebenfalls hereinzukommen.
Zögernd trat sie ein paar Schritte vor.
Das Zimmer war freundlich und sonnig, doch die bunten Bilder an den Wänden und die hellen Möbel konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um ein Krankenzimmer handelte. Ein riesiges Krankenhausbett stand darin, in dem die Patientin beinahe verschwand. Kim presste die Lippen fest zusammen beim Anblick der schmalen blassen Gestalt in den hellgelben Kissen.
Völlig regungslos lag die Frau da, die Augen geschlossen, die Hände auf der Bettdecke übereinandergelegt wie bei einer Toten. Einige Kabel kamen unter der Decke hervor und führten zu einem Monitor neben dem Bett, auf dem rote und grüne Linien in Wellen- und Zackenmustern auf- und abliefen. Den Signalton der Überwachungseinheit hatte man abgestellt und so war es sehr still im Raum.
»Du musst dichter rangehen«, flüsterte Lukas Kim ins Ohr. »Sie liegt im Koma, aber sie kann spüren, dass du da bist.« Während er sprach, streifte sein Atem sie am Hals. Das Schaudern, das über ihre Haut rann, war diesmal wesentlich schwächer als neulich im Pascha.
Die Zimmertür öffnete sich, die Schwester kam mit dem Blumenstrauß herein. Sie hatte ihn von seiner Folie befreit und in eine Vase gestellt und platzierte diese nun auf dem Nachttisch. »Ihr Sohn hat Ihnen Fresien mitgebracht«, erklärte sie Lukas’ Mutter. Sie redete ein wenig zu laut und zu deutlich. »Da freuen wir uns aber, nicht wahr?«
Lukas stand einfach nur da und wartete, bis die Schwester das Zimmer wieder verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatte. Draußen auf dem Linoleum waren ihre quietschenden Schritte deutlich zu hören. Kim lauschte dem leiser werdenden Geräusch, bevor sie sich wieder bewegte und ein Stück näher ans Bett trat.
So also sah ein Komapatient aus, dachte sie und kämpfte gegen einen Anflug von Faszination, den sie gerade für überhaupt nicht angebracht hielt. Die Haare von Frau Neumann waren sorgsam gebürstet und lagen wie ein Heiligenschein um ihren Kopf. Ihr Gesicht war blass, wirkte aber nicht krank, sondern nur sehr schmal. Alles in allem, so kam es Kim vor, sah diese Frau eher aus, als würde sie schlafen. Das Einzige, was sich an ihr bewegte, waren der Mittel- und Ringfinger der oben aufliegenden Hand. Beide zuckten schwach.
»Das ist Kim«, sagte Lukas. »Erinnerst du dich an sie? Ich habe dir von ihr erzählt.«
Wieder zuckten die beiden Finger. Kim wurde plötzlich ganz warm ums Herz. Lukas hatte seiner Mutter von ihr erzählt? Über das Bett hinweg sah sie ihn an. Kurz begegneten sich ihre Blicke.
»Ich habe dir das Buch mitgebracht, über das wir neulich gesprochen haben«, erklärte Lukas seiner Mutter und legte es auf den Nachttisch neben die Blumenvase. Jetzt konnte Kim auch den Titel erkennen. Es war »Rebecca« von Daphne Du Maurier.
Lukas bemerkte, dass Kims Blick auf dem Cover ruhte, und erklärte ihr: »Immer wenn ich hier bin, lese ich meiner Mutter etwas vor. Nicht war, Mom?«
Kim fühlte eine beruhigende Wärme im Magen, als sie registrierte, dass er die gleiche Anrede für seine Mutter benutzte wie sie für Johanna.
Er erhielt keine Reaktion.
Sein Kehlkopf zuckte einmal heftig.
Warum ist sie so?, wollte Kim fragen, aber sie wagte es nicht.
Lukas jedoch schien die Frage zu spüren. »Mein Vater«, erklärte er mit ganz leiser Stimme und griff nach der Hand seiner Mutter. »Er ist ein versoffenes Arschloch und hat sie jahrelang verprügelt. Ich konnte nichts dagegen tun.« Seine Stimme klang traurig. Sanft strich er mit beiden Daumen über den Handrücken seiner Mutter, während er weiterredete. »Und dann, vor ein paar Monaten, kam er
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