Schattenfreundin
…
»Jetzt hör mir mal zu«, sagte Thomas. Er legte beide Hände um ihr Gesicht. »Keiner von uns trägt die Schuld an dem, was passiert ist. Nur diese Wahnsinnige, diese Verbrecherin, die allein ist schuldig. Du, ich, Leo – keiner von uns trägt auch nur ein winziges bisschen Schuld. Okay?«
Sie nickte stumm, und Thomas nahm sie wieder in die Arme. Für eine Weile saßen sie nur so da.
Katrin atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Doch es gelang ihr nicht. Ihre Gedanken purzelten wild durcheinander. Plötzlich fiel ihr etwas ein, und sie richtete sich auf. »Ich muss dir noch was sagen.«
Thomas sah sie erwartungsvoll an.
»Ich bin schwanger.«
Seine Augen füllten sich mit Tränen, trotzdem lächelte er. »Deshalb war dir immer so übel.«
Sie nickte.
Thomas drückte sie an sich und legte seine Hand vorsichtig auf ihren Bauch.
»Hallo, Kleines«, sagte er leise.
»Ich konnte es meinem Papa nicht mehr erzählen«, sagte Katrin. Sie musste schlucken. »Ich konnte es noch keinem erzählen.«
In dieser Sekunde spürte sie, wie ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief. »Oh Gott«, sagte sie tonlos. »Doch, ich habe es jemandem erzählt. Ihr .«
Thomas musste nicht fragen, wen sie damit meinte.
Das Huhn hatte über eine Stunde lang gekocht. Große Fettaugen trieben auf der Brühe, und so versuchte sie, sie abzuschöpfen. Klaus mochte die Suppe nicht, wenn sie so fett war, und sie wollte auf keinen Fall, dass er sich wieder aufregte.
Vorsichtig nahm sie das Huhn aus dem Topf. Sie wollte das Fleisch vom Knochen trennen, dann könnte sie einen Teil davon zurück in die Suppe tun und aus dem Rest morgen Hühnerfrikassee machen.
Mit einem scharfen Küchenmesser löste sie das Fleisch. Weiß und kahl stachen die Knochen aus dem Huhn hervor.
Sie schauderte. Die Knochen. Sie sahen aus wie die Knochen im Wald. Wie die Knochen ihrer Freundin, als sie dort gehangen hatte. Grauenhaft, aber auch irgendwie komisch.
Sie hatte damals darauf bestanden, vor der Einäscherung noch einen Blick in den Sarg zu werfen. Obwohl man ihr gesagt hatte, dass sie nichts mehr finden würde, was sie an ihre Freundin erinnern könnte, wollte sie sich von ihr verabschieden. Aber von nackten Knochen, die nur von einem Totenhemd bedeckt waren, konnte man sich nicht richtig verabschieden.
Es war der schlimmste Tag ihres Lebens gewesen. Nein, der zweitschlimmste. Noch schlimmer war der Tag gewesen, der alles verändert hatte.
Keiner aus der Familie ihrer Freundin war damals zur Beerdigung gekommen, nicht einmal die Eltern. Als strenggläubige Christen konnten sie ihrer Tochter den Selbstmord nicht verzeihen. Noch heute machte es sie wütend, wenn sie daran dachte.
Sie hob das Messer, hielt einen Augenblick lang die Luft an – und dann stach sie zu. Tief drang das Messer in die Brust des Huhns. Einmal, zweimal, immer wieder.
Charlotte Schneidmann warf ihrem Kollegen einen erstaunten Blick zu. Die Frau, die gerade ihr Büro betreten hatte und die sich unten an der Pforte als Carmen Gerber ausgewiesen hatte, trug trotz der Hitze einen grauen Rollkragenpullover und eine Jeans. Sie war kaum geschminkt und hatte ihre Haare nachlässig zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden. Ihre Augen waren gerötet, als hätte sie geweint.
»Ich möchte Anzeige erstatten«, sagte Carmen Gerber. »Gegen meinen Chef. Thomas Ortrup.«
Käfer bot ihr einen Stuhl an. »Bitte setzen Sie sich.«
Sie nickte, nahm auf der anderen Seite des Schreibtisches Platz und presste ihre schwarze Handtasche auf den Schoß.
Charlotte lehnte sich an einen der Aktenschränke. »Und warum möchten Sie Anzeige erstatten? Was ist vorgefallen?«
Carmen Gerber blickte kurz zu Boden. Dann räusperte sie sich. »Er ist gewalttätig geworden«, sagte sie leise.
»Wann und in welcher Situation?«
Sie schluckte. »Heute. In seinem Büro.«
»Und was hat Thomas Ortrup gemacht?«, fragte Charlotte.
Frau Gerber löste ihren Pferdschwanz und strich ihre Haare am Hinterkopf zur Seite.
»Das.«
Charlotte ging zu ihr und entdeckte eine große rote Beule.
»Wie ist das passiert?«
»Er …« Carmen Gerber blickte wieder zu Boden, als würde sie sich schämen.
»Möchten Sie lieber allein mit meiner Kollegin reden?«, fragte Käfer.
Sie schüttelte den Kopf und blickte wieder auf. »Nein, nein, es geht schon. Es ist nicht leicht für mich … aber es geht schon.« Sie holte tief Luft. »Es war heute Mittag. Er kam ins Büro und wollte unbedingt eine bestimmte Akte haben,
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