Schattengeboren - Sinclair, A: Schattengeboren
Mannes, der in einem Sessel auf der anderen Seite des Raums saß und las. »Hearne«, bemerkte er und ließ den Arm sinken. »Wie spät ist es? Ich hätte gedacht, dass Mycene zum Aufbruch rufen würde, sobald die Sonne untergegangen ist.«
»Das hätte er auch getan«, antwortete der Arzt und legte sein Buch beiseite, anscheinend ohne die Bedeutung von Ishmaels fruchtloser Geste bemerkt zu haben. »Aber draußen liegt Schnee, fast sechzig Zentimeter hoch.«
Wenn Balthasar ihm seine warme Decke weggerissen hätte, wäre er nicht weniger drastisch hochgeschnellt. »Sechzig Zentimeter?« Er verspürte nicht den geringsten Hinweis auf magisches Wetterwirken. Grundgütige Imogene, er musste wie ein Toter geschlafen haben, und Balthasar ebenfalls.
»Wie man mir berichtete, hat es kurz nach Sonnenuntergang aufgehört zu schneien. Baronesse Lavender hat einige Gruppen auf Skiern und Schneeschuhen ausgeschickt, um zu ermitteln, wie weitreichend die Auswirkungen sind.«
»Aber keine der gewöhnlichen Patrouillen«, entgegnete Ishmael. »Ist es das, was Sie mir sagen wollen?« Er schlug seine Decken zurück. Balthasar machte Anstalten, sich steif aus seinem Sessel zu hieven, um in sein eigenes Zimmer zurückzukehren. Mit einer lässigen Handbewegung befahl Ishmael ihm: »Bleiben Sie. Ich habe nichts, was Sie nicht schon hundert Mal gepeilt hätten. Sie verstehen, welche Macht vonnöten ist, um das Wetter zu beeinflussen?«
»Ja«, bestätigte Balthasar. »Für diese Art von Wetterzauber würde man mehrere Hohe Meister der Lichtgeborenen benötigen, und er liegt wahrscheinlich außerhalb der Möglichkeiten von lebenden nachtgeborenen Magiern.«
»Stranhorne wird das wissen«, sagte Ishmael.
»Aber ob er dieses Wissen weitergegeben hat?«, fragte Balthasar nach einer nüchternen Einschätzung der Lage.
»Das nehme ich an. Der Mann ist kein Narr.«
Ishmael griff nach Kleidern, aus denen die Gerüche und der Schmutz der Straße herausgewaschen worden waren, und ging in das angrenzende Ankleidezimmer, um sich zu waschen und anzuziehen. Bekleidet tappte er an Balthasar vorbei zur äußeren Wand, hob den Riegel an und öffnete den Fensterladen des schmalen, lichtversiegelten Fensters. Ihm fehlte die Verglasung, da sein Zweck defensiver Natur war. Ishmael trat mit einem Fuß auf die niedrige Bank, auf der ein Schütze knien konnte, und steckte den Kopf durch die Lücke – für Brust oder Schultern war sie nicht weit genug. Dann atmete er tief ein und lauschte. Die Schießscharte verbreiterte sich nach außen hin und erlaubte einem Scharfschützen dadurch ein mehr als sechzig Grad umfassendes Schussfeld.
Es lag Schnee. Der Geruch war unverkennbar, aber die Luft erwärmte sich, und Ishmael konnte den vom Wind getragenen Duft der Gräser und Sträucher der Grenzlande riechen. Das Tauwetter würde nicht lange auf sich warten lassen. Sollte er sich damit trösten, dass die Magier, die das Unwetter auf sie herabbeschworen hatten, nicht die Macht oder Hingabe besaßen, um die Kälte aufrechtzuerhalten? Oder hatten sie bereits ihr Ziel erreicht, sie vor Ort festzuhalten und die Patrouillen Stranhornes zu verhindern?
Von links hörte er Stimmen. Kinder und zwei oder drei Erwachsene kreischten voller Entzücken über diese Neuheit, und er drehte den Kopf, um sie besser orten zu können. Sie mussten sich innerhalb des umfriedeten Gartens im Osten befinden, da es in Zeiten hoher Alarmbereitschaft keinen anderen Platz gab, wo Kinder spielen konnten. Es war der Garten, der der Baronin bis zu ihrem Tod gehört hatte. Er hatte sich jetzt hinreichend orientiert, und ihn beunruhigte nicht nur der Schnee. Er zog den Kopf wieder zurück, schloss und überprüfte automatisch den Fensterladen und wandte sich seinem Reisegefährten zu. »Hearne«, sagte er, »Ich brauche Ihre Hilfe.«
»Alles, was Sie wollen«, antwortete der Arzt.
Er würde eher, so gestand Ishmael sich ein, einem Skaffern nur mit einem Buttermesser bewaffnet gegenübertreten, als so ein allumfassendes Angebot anzunehmen. »Sie wissen, warum wir uns überhaupt kennenlernen sollten?«
»Fürst Vladimer dachte«, erwiderte Balthasar, »meine Fähigkeiten könnten Ihnen im Umgang mit dem Ruf von Nutzen sein.« Balthasar Hearne erfreute sich eines stetig wachsenden Ansehens bei der Behandlung von Sucht- und anderen irrationalen Krankheiten. Sein Erfolg bei Guillaume di Maurier, einem Agenten, dessen Dienste Vladimer ab und zu in Anspruch nahm, hatten die Aufmerksamkeit des
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