Schattengeboren - Sinclair, A: Schattengeboren
über diese Stärke. Sie hatte mehr als einmal betont, wie froh sie sei, dass ihr sowohl die Bürden als auch die Versuchungen hochrangiger Magie erspart blieben und sie sich auf die Rolle einer tüchtigen Ärztin und verlässlichen Heilerin dritten Ranges beschränkte.
Im Geist ging er noch einmal jene Szene durch, die er miterlebt hatte, kurz bevor sie hierhergekommen waren. »Wer ist diese Frau, die du erwähnt hast – die, die dich geholt hätte?«
»Du solltest nicht so viele Fragen stellen«, erwiderte der Junge.
Seine Worte ließen Balthasar zwar nicht direkt verstummen, aber seine Zunge wurde schwerer und das Sprechen mühsamer. Er aß ein halbes Käsebrot, leerte sein Bier und verspürte die leichte Gelöstheit, die von schnell getrunkenem Bier herrührte. Der Junge nippte misstrauisch an seiner Flasche.
Balthasar versuchte es noch einmal: »Warum sind wir wieder in der Stadt?«
Sebastien zuckte die Achseln. »Befehle.«
Balthasar stellte die Flasche ab. »Ich werde versuchen, Feuer im Herd zu machen«, erklärte er. »Ich bin vollkommen durchnässt. Und … «
Die Art, wie Sebastien sich plötzlich versteifte und überrascht aufkeuchte, ließ ihn innehalten. Der Boden unter ihnen erzitterte. Eine immense Erschütterung durchschnitt die Nacht. Balthasar erhob sich, wandte den Kopf von einer Seite zur anderen und versuchte, die Richtung zu ermitteln, aus der das Geräusch kam. Er erkannte es als eine riesige Explosion, noch größer als die Katastrophe, die sich vor etlichen Jahren in einer der Brennereien abgespielt hatte. Aber in dieser Richtung lagen keine Fabriken, nur weitere Straßenreihen, Parklandschaften entlang des Flusses, der Strom selbst und die Anwesen auf der anderen Seite. Von oben hörte er ein bizarres, schreiendes Pfeifen und dann von links eine weitere, schwächere Explosion.
Sebastien sprang auf und landete neben Balthasar auf den Füßen. »Ja!« Er stieß die Faust in die Luft. »Ja, ja, ja! Sie haben es endlich getan! So viel zu deiner Vorsicht, Neill, und so viel zu deiner Macht, Jonquil!«
Oh, grundgütige Imogene, dachte Balthasar. Sebastien hatte etwas über eine magische Verstärkung von Munition erzählt. Waren ein oder mehrere Schiffe auf dem Fluss explodiert? Aber wer hätte die Munition überhaupt in die Stadt bringen sollen? Hatten die Herzöge darauf bestanden, sich ebenfalls zu bewaffnen, weil der Beschluss 6/29 nun ausgesetzt worden war? Er hörte ein weiteres Krachen und ein weiteres Pfeifen vorbeifliegender … War das Artillerie? Befanden sie sich im Krieg? Kämpften Nachtgeborene gegen Nachtgeborene? Oder Nachtgeborene gegen Lichtgeborene? Abermals wandte er den Kopf und orientierte sich. In dieser Richtung lag der Fluss, die Hauptschlagader von Handel und Kommunikation, und an seinen Ufern auf der anderen Seite befanden sich die großen Stadtresidenzen mehrerer Herzöge, darunter auch das Gut des Herzogs Kalamay, der alle Lichtgeborenen und Magier hasste. Und in dieser Richtung lag das Stadtzentrum, der Palast des lichtgeborenen Prinzen und der Magierturm.
Von draußen hörte er Schreie. Falls man Mauern von den Häusern der Lichtgeborenen niedergerissen hatte, würde jeder Nachtgeborene auf der Straße einen schnellen Tod sterben, sofern das Licht mehr war als nur ein blasser Schimmer, oder langsam und qualvoll, wenn es weniger war. Er durfte dem niemanden aussetzen, ganz gleich, in welche Gefahr er sich selbst dabei brachte. Er rannte an dem Jungen vorbei, drehte den Türknauf und fand die Tür verschlossen. Mit einer Hand tastete er nach einem Schlüssel, fand aber keinen, während er immer noch vergeblich drehte. Unter einem Sperrfeuer erschauerte die Tür in ihrem lichtdichten Rahmen, dann spürte er eine Woge von Unbehagen und Schwindel. Augenblicke danach folgten eine Explosion in der Luft und eine weitere, noch stärkere rechts von ihm. Dann verebbten die Vibrationen, und nur noch eine tiefe Glocke dröhnte. Ansonsten ertönten keinerlei Geräusche von Lebenden mehr.
Magie, dachte er. So viel, dass selbst ich sie spüren kann. Er hörte ein Wimmern hinter sich und wandte sich um. Er peilte Sebastien, der auf dem Boden mit durchgedrücktem Rücken unter Krämpfen zitterte. Er ließ sich neben ihm nieder, untersuchte ihn auf Spuren von Verletzungen oder etwas, das den Krampf ausgelöst haben könnte, dann rollte er ihn auf die Seite, stützte ihn mit den Knien im Rücken ab und beschirmte seinen Kopf gegen die Fliesen. Er kannte die medizinische
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